Skurril und grotesk
Der Beamte als staatshöriger Kleingeist, Hausbesetzungen oder die Neutronenbombe sind Themen dieser neu aufgelegten Sammlung satirischer Texte Edgar Hilsenraths. Sie wurden erstmals 1983 publiziert und resümieren die Erfahrungen des Schriftstellers in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der 70er und 80er Jahre.
Edgar Hilsenraths Romane haben meist Verstörung, mindestens Verunsicherung ausgelöst. Von einem "heiklen, waghalsigen Unterfangen" schrieb Heinrich Böll mit Blick auf Hilsenraths Roman "Der Nazi und der Friseur" (1977), den er "für nicht so ganz mißlungen" hielt. Das Buch vom Nazi, der als zum Juden gewendeter Friseur nach dem Krieg seine Existenz komplett und erfolgreich umkrempelt, war schwer fassbar noch für die offenste deutsche Leserschaft.
Jener Zug ins grell-satirisch Groteske, eine extreme Lakonie, das Fehlen jeglichen moralischen Räsonnements waren schwer einzuordnen in einem intellektuellen Klima, dessen Grundzug die rational-politisch-moralische Durchdringung des Nationalsozialismus war. Wäre der Roman in seiner Erstausgabe – als Übersetzung ins Englische, 1971 – nicht ein derartiger Erfolg gewesen, wer weiß, ob dieser Text (und sein Autor) den (Rück-)Weg aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland überhaupt gefunden hätten.
Sein nachgeschobener Erstling, der Roman "Nacht" (bereits 1964 in sehr kleiner Auflage publiziert) verursachte ähnliche Unsicherheiten wie "Der Nazi und der Friseur", wenn auch aus anderen Gründen: der harte realistische Ton, in dem die Erfahrung des Gettos gespiegelt wird, erzeugte Abwehrreflexe. Und noch das 1989 erschienene "Märchen vom letzten Gedanken", das den Völkermord der Türken an den Armeniern zum Gegenstand hatte, bereitete gewisse Schwierigkeiten: Konnte man so, in Märchenform, über den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts schreiben? Dennoch – und nicht zuletzt durch den "Rückenwind" des von Günter Grass gestifteten Alfred-Döblin-Preises für das Manuskript – konnte Hilsenrath seither als durchgesetzter Autor gelten.
Die jetzt im Rahmen der vorzüglichen Werkausgabe bei Dittrich neu aufgelegte Sammlung satirischer Texte unter dem Titel "Zibulsky oder Antenne im Bauch", erstmals 1983 publiziert, markiert eine Art Zwischenzeit. In gewisser Weise resümiert sie die Erfahrungen des Schriftstellers in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der 70er und 80er Jahre.
Anders als im Großteil seines sonstigen Werkes verzichtet der Autor in diesen meist kurzen Texten – fast durchweg Dialoge – auf autobiographische Elemente und auf die literarische Rekonstruktion der Vergangenheit. Vielmehr ist die Perspektive eine betont gegenwärtige, wenn dies natürlich auch den historischen Rückraum einschließt.
Wenn also ein Dialog in Sichtweite der Berliner Mauer stattfindet, benennt ein "Reiseleiter" den "Vermauerungsarchitekten" Adolf Hitler als den Baumeister jener deutsch-deutschen Grenzanlage, der seinen Plan am "Roulettetisch" der Geschichte gefasst habe, welchselbigen Tisch man auch besichtigen könne im "Museum für unbewältigte Vergangenheit". Das Beispiel verdeutlicht, dass ein anderer wesentlicher Zug von Hilsenraths Schreiben hier seine Fortsetzung findet: jene Tendenz zum überdreht Skurrilen, zum Grotesken, zum Satirischen und zur Kürze.
Zibulsky ist dabei nicht eigentlich eine Figur, vielmehr eine Schablone, ein deutscher "Jedermann", der in wechselnden Figurationen auftauchen kann: als Alt-Nazi, der sich in seiner wiedergefundenen SA-Uniform zunächst am Stammtisch seiner Kneipe betrinkt und dann zum Fußballstadion geht, weil ihm in der Fankurve wehmütige Erinnerungen an vergangene Jubelzeiten kommen; als Lehrer in der DDR, der von einer "Säuberungskommission" aufgesucht wird, die kambodschanische Verhältnisse einführen will; als deutsche "Kriegerwitwe" von 70 Jahren, die einen 30-jährigen Mann sucht, weil dies das Alter ihres geliebten Mannes war, als der bei Stalingrad fiel. Der Heiratsvermittler kann ihr bei dieser Wunschkonstellation lediglich einen türkischen Gastarbeiter anbieten, worauf die Witwe – trotz vieler ausländerfeindlicher Ressentiments – schließlich eingeht.
Auf ähnliche Weise schließt Hilsenrath das damals Gegenwärtige mit der Vergangenheit kurz, wenn ein besorgter Vater feststellt, dass sein Sohn offenbar Heroin spritzt. Auf das Thema angesprochen, erklärt der Sohn, er wisse nicht, wohin mit seinem Leben, ihm fehle jede Orientierung. Sein Vater kann nur entgegnen, dass er dieses Problem in seiner Jugend nicht gekannt habe, für "Sinnstiftung" habe es da einen Führer gegeben.
Der Beamte als staatshöriger Kleingeist, Hausbesetzungen oder die Neutronenbombe sind Themen dieser Satiren, die ganz aus der damaligen Wirklichkeit geschöpft sind. Man kann diese Texte heute nicht mehr mit der gleichen Vehemenz empfinden, wie das vor fast einem Vierteljahrhundert möglich gewesen sein mag: Sie sind historisch geworden. Und bleiben als solche historischen Aufblendungen doch unbedingt lesbar, denn sie bezeugen den Zeitgeist und die Befindlichkeit einer Epoche auf eine zugespitzte, oft schwarzhumorige Weise.
Zugleich legen sie durchaus unerwartete Kontinuitäten dar: ein Thema wie Neonazismus/Ausländerfeindlichkeit hat in heutigen Zeiten gewiss andere Wurzeln als die von Hilsenrath seinerzeit umkreiste "unbewältigte Vergangenheit" des originären Nationalsozialismus. Und doch ergeben solche Gegenüberstellungen Reibungsmomente, die den Leser zur Reflexion einladen.
Zum Autor
Geboren 1926 in Leipzig, flüchtete Hilsenrath mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder 1938 nach Rumänien. 1941 Deportation der Familie in ein jüdisches Getto in der Ukraine. 1945 wanderte er nach Palästina aus, ging 1951 in die USA. Kehrte 1975 nach Deutschland – Berlin – zurück, wo er seither lebt. Zahlreiche Preise: neben dem Döblin-Preis (1989) erhielt er den Heinz-Galinski-Preis (1992), den Hans-Sahl-Preis (1998), den Lion-Feuchtwanger-Preis (2004) sowie den armenischen (!) Staatspreis (2006).
Rezensiert von Gregor Ziolkowski
Edgar Hilsenrath: Zibulsky oder die Antenne im Bauch. Satiren. Gesammelte Werke, Band 5.
Herausgegeben von Helmut Braun. Dittrich Verlag, Berlin 2007. 146 Seiten, 19,80 Euro.
Jener Zug ins grell-satirisch Groteske, eine extreme Lakonie, das Fehlen jeglichen moralischen Räsonnements waren schwer einzuordnen in einem intellektuellen Klima, dessen Grundzug die rational-politisch-moralische Durchdringung des Nationalsozialismus war. Wäre der Roman in seiner Erstausgabe – als Übersetzung ins Englische, 1971 – nicht ein derartiger Erfolg gewesen, wer weiß, ob dieser Text (und sein Autor) den (Rück-)Weg aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland überhaupt gefunden hätten.
Sein nachgeschobener Erstling, der Roman "Nacht" (bereits 1964 in sehr kleiner Auflage publiziert) verursachte ähnliche Unsicherheiten wie "Der Nazi und der Friseur", wenn auch aus anderen Gründen: der harte realistische Ton, in dem die Erfahrung des Gettos gespiegelt wird, erzeugte Abwehrreflexe. Und noch das 1989 erschienene "Märchen vom letzten Gedanken", das den Völkermord der Türken an den Armeniern zum Gegenstand hatte, bereitete gewisse Schwierigkeiten: Konnte man so, in Märchenform, über den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts schreiben? Dennoch – und nicht zuletzt durch den "Rückenwind" des von Günter Grass gestifteten Alfred-Döblin-Preises für das Manuskript – konnte Hilsenrath seither als durchgesetzter Autor gelten.
Die jetzt im Rahmen der vorzüglichen Werkausgabe bei Dittrich neu aufgelegte Sammlung satirischer Texte unter dem Titel "Zibulsky oder Antenne im Bauch", erstmals 1983 publiziert, markiert eine Art Zwischenzeit. In gewisser Weise resümiert sie die Erfahrungen des Schriftstellers in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der 70er und 80er Jahre.
Anders als im Großteil seines sonstigen Werkes verzichtet der Autor in diesen meist kurzen Texten – fast durchweg Dialoge – auf autobiographische Elemente und auf die literarische Rekonstruktion der Vergangenheit. Vielmehr ist die Perspektive eine betont gegenwärtige, wenn dies natürlich auch den historischen Rückraum einschließt.
Wenn also ein Dialog in Sichtweite der Berliner Mauer stattfindet, benennt ein "Reiseleiter" den "Vermauerungsarchitekten" Adolf Hitler als den Baumeister jener deutsch-deutschen Grenzanlage, der seinen Plan am "Roulettetisch" der Geschichte gefasst habe, welchselbigen Tisch man auch besichtigen könne im "Museum für unbewältigte Vergangenheit". Das Beispiel verdeutlicht, dass ein anderer wesentlicher Zug von Hilsenraths Schreiben hier seine Fortsetzung findet: jene Tendenz zum überdreht Skurrilen, zum Grotesken, zum Satirischen und zur Kürze.
Zibulsky ist dabei nicht eigentlich eine Figur, vielmehr eine Schablone, ein deutscher "Jedermann", der in wechselnden Figurationen auftauchen kann: als Alt-Nazi, der sich in seiner wiedergefundenen SA-Uniform zunächst am Stammtisch seiner Kneipe betrinkt und dann zum Fußballstadion geht, weil ihm in der Fankurve wehmütige Erinnerungen an vergangene Jubelzeiten kommen; als Lehrer in der DDR, der von einer "Säuberungskommission" aufgesucht wird, die kambodschanische Verhältnisse einführen will; als deutsche "Kriegerwitwe" von 70 Jahren, die einen 30-jährigen Mann sucht, weil dies das Alter ihres geliebten Mannes war, als der bei Stalingrad fiel. Der Heiratsvermittler kann ihr bei dieser Wunschkonstellation lediglich einen türkischen Gastarbeiter anbieten, worauf die Witwe – trotz vieler ausländerfeindlicher Ressentiments – schließlich eingeht.
Auf ähnliche Weise schließt Hilsenrath das damals Gegenwärtige mit der Vergangenheit kurz, wenn ein besorgter Vater feststellt, dass sein Sohn offenbar Heroin spritzt. Auf das Thema angesprochen, erklärt der Sohn, er wisse nicht, wohin mit seinem Leben, ihm fehle jede Orientierung. Sein Vater kann nur entgegnen, dass er dieses Problem in seiner Jugend nicht gekannt habe, für "Sinnstiftung" habe es da einen Führer gegeben.
Der Beamte als staatshöriger Kleingeist, Hausbesetzungen oder die Neutronenbombe sind Themen dieser Satiren, die ganz aus der damaligen Wirklichkeit geschöpft sind. Man kann diese Texte heute nicht mehr mit der gleichen Vehemenz empfinden, wie das vor fast einem Vierteljahrhundert möglich gewesen sein mag: Sie sind historisch geworden. Und bleiben als solche historischen Aufblendungen doch unbedingt lesbar, denn sie bezeugen den Zeitgeist und die Befindlichkeit einer Epoche auf eine zugespitzte, oft schwarzhumorige Weise.
Zugleich legen sie durchaus unerwartete Kontinuitäten dar: ein Thema wie Neonazismus/Ausländerfeindlichkeit hat in heutigen Zeiten gewiss andere Wurzeln als die von Hilsenrath seinerzeit umkreiste "unbewältigte Vergangenheit" des originären Nationalsozialismus. Und doch ergeben solche Gegenüberstellungen Reibungsmomente, die den Leser zur Reflexion einladen.
Zum Autor
Geboren 1926 in Leipzig, flüchtete Hilsenrath mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder 1938 nach Rumänien. 1941 Deportation der Familie in ein jüdisches Getto in der Ukraine. 1945 wanderte er nach Palästina aus, ging 1951 in die USA. Kehrte 1975 nach Deutschland – Berlin – zurück, wo er seither lebt. Zahlreiche Preise: neben dem Döblin-Preis (1989) erhielt er den Heinz-Galinski-Preis (1992), den Hans-Sahl-Preis (1998), den Lion-Feuchtwanger-Preis (2004) sowie den armenischen (!) Staatspreis (2006).
Rezensiert von Gregor Ziolkowski
Edgar Hilsenrath: Zibulsky oder die Antenne im Bauch. Satiren. Gesammelte Werke, Band 5.
Herausgegeben von Helmut Braun. Dittrich Verlag, Berlin 2007. 146 Seiten, 19,80 Euro.