Skurrile Provinzler

Rezensiert von Gertrud Lehnert |
Elf neue Geschichten aus der amerikanischen Provinz oder aus dem Hinterland, wie der deutsche Titel der "Wyoming Stories 2" sagt.
Warum sollte man sich für dieses eher fern liegende Thema ohne Glanz und Glamour interessieren? Weil Annie Proulx diese Geschichten geschrieben hat, und weil die 1935 geborene Autorin es immer wieder schafft, einen mit ihren skurrilen Provinzlern, mit grandiosen Landschaftsbeschreibungen und verhaltener Komik in Bann zu schlagen.

Mit dem Roman "Schiffsmeldungen" gelang Annie Proulx 1993 (1995 auf deutsch) der internationale Durchbruch; sie erhielt dafür die wichtigsten US-amerikanischen Literaturpreise. Es folgten "Das grüne Akkordeon" (dt. 1997), "Mitten in Amerika" (dt. 2003) und der erste Erzählband "Weit draußen. Geschichten aus Wyoming" (dt. 1999). Alle Texte haben die USA zum Gegenstand, ein heruntergekommenes, schäbiges, stolzes und schönes Amerika, das erdverbundene Träumer, "white trash", hartnäckige Überlebende, sture Einzelgänger und loyale Gemeinschaften hervorbringt.

Der Ort, in dem mehrere der neuen Geschichten spielen, heißt Elk Tooth: 80 Einwohner, drei Kneipen. Ein prototypischer Ort, denn alle anderen Schauplätze ähneln ihm, ob es Swift Fox mit 73 Einwohnern oder das erheblich größere Casper ist.

In Elk Tooth lebt die Barfrau Amanda, die zum Schutz gegen die Rinderherde ihres Nachbarn, die ihr Grundstück verwüstet, in einer Nacht- und Nebelaktion Alligatoren importiert und aussetzt. Hier lebt Willy Huson, der jahrelang "in der Fremde" war, es dort aber nicht ausgehalten hat und nun alte Lkw und Rasenmäher repariert, was in der Regel Monate dauert.

Hier lebt der Wildhüter Creel Zmundzinski, der Elchkuhmörder hasst und eines Tages zufällig einen "Höllenschlund" entdeckt, der die ertappten Wilddiebe ohne Creels Zutun und zu seiner großen Genugtuung einfach verschlingt – ein eigentümlich phantastisches Moment in diesen ansonsten überaus realistischen Geschichten, das man als Leserin indessen genauso selbstverständlich hinnimmt wie die anderen großen und kleinen Ereignisse, die das Leben in diesem erzählten Wyoming ausmachen.

Gilbert Wolfscale lebt zusammen mit seiner alten Mutter auf seiner heruntergekommenen Ranch, die zu seinem großen Kummer seine beiden verstädterten Söhne nie übernehmen werden, die er aber niemals aufgeben würde, koste es, was es wolle.

Zwei New Yorker haben sich einen Alterssitz gekauft und werden zwar stillschweigend von den Leuten des Orts geduldet aber nicht wirklich akzeptiert – und sie passen auch nicht in diese raue Landschaft und in diese verschworene Gemeinschaft.

Nebenbei erfahren wir ihre Vorgeschichte und die Geschichte ihrer in Maine lebenden Tochter und bekommen auf diese Weise nicht nur das Psychogramm einer Ehe, sondern auch eine soziale Analyse. Experiment und Ehe scheitern, und das wird ohne jede Sentimentalität erzählt.

Das gilt für alle Geschichten, egal ob sie große Tragödien oder kleine Alltäglichkeiten schildern. Sachlich, nüchtern und oft mit Ironie lässt die Erzählerin ihre Personen sich in ihren Handlungen und Reden gewissermaßen selbst darstellen.

Niemals wird ein vernichtendes Urteil über sie gefällt, sie sind eben so, wie sie nun mal sind: absonderlich, oft gewöhnlich und bei aller Typik erstaunlich unverwechselbar. Sie tun zuweilen merkwürdige Dinge, aber sie lassen sich niemals durch ein widriges Schicksal unterkriegen, höchstens sterben sie daran, aber das ist – so der Tenor der Geschichten – letztlich der natürliche Gang der Ereignisse.

In diesem besonderen Blick auf die Menschen und das Land liegt trotz oder gerade wegen der nüchternen Erzählweise das Pathos der Geschichten, ein typisch Proulxsches Pathos, das alle Romane und Erzählungen dieser Autorin unverwechselbar macht.

Annie Proulx: Hinterland. Neue Geschichten aus Wyoming
Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz,
München, Luchterhand 2005, 255 S.