Geht zur Seite, Mariah und Wham!
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Jedes Jahr das gleiche: Viele Radiosender werden von "Last Christmas" und "All I Want for Christmas is You" dominiert. Dabei hat das Genre so absurde Seiten, die immer viel zu kurz kommen. Wir stellen die skurrilsten Beispiele vor.
Täuscht mein Eindruck, oder bleiben wir in diesem Jahr weitgehend verschont von all diesen Heile-Welt-Weihnachts-CDs von Helene Fischer, Andrea Berg und den Kastelruthen Spatzen? Mag sein, dass in Zeiten einer Pandemie die Leute mit dem Durchzählen ihrer Weihnachts-Gäste beschäftigt sind - da bleibt keine Zeit für musikalischen Zuckerguss. Zum Glück! Für die "Tonart" ist das ein schöner Anlass, passend zu den Zeiten in die dunkleren, kantigeren, abseitigeren Ecken des Weihnachtslieder-Repertoires zu schauen.
The Kinks auf Abwegen
Ganz weit oben auf der Liste der verschrobenen Weihnachtslieder: The Kinks! Protangonisten des britischen Rock- und Beat-Booms der 1960er Jahre. 1977 veröffentlichten die Gebrüder Davis eine Single mit dem Titel "Father Christmas".
Zu ebenso krachigen wie eingängigen Gitarrenriffs wird da die Geschichte eines Weihnachtsmannes erzählt, der beim Dienst in einem Einkaufszentrum von einer Gruppe randalierender Kinder tätlich angegriffen wird, die Geld von ihm wollen. Seine blöden Geschenke soll er bitteschön behalten.
Man kann diesen Titel als Sozialdrama deuten, als stoßseufzenden Hinweis darauf, wie schlimm doch die heutige Jugend ist, aber auch als punkige Kapitalismuskritik, denn am Ende des Songs mahnt der Sänger, auch an die zu denken, die nichts haben.
Weihnachtslieder der Nirvana-Vorband
So klingt es, wenn Japanerinnen mit betont japanischem Akzent englisch singen. Shonen Knife heißt diese Formation aus Osaka. Ein Frauen-Trio, das in den 1980er Jahren in den USA populär wurde, sich selbst in der Tradition der Ramones sah, aber nun, mit dem gebührenden zeitlichen Abstand, als Wegbereiter des Grunge eingeordnet werden kann.
Kein Wunder, dass Kurt Cobain die Band verehrte und sie als Vorgruppe der 1993er "Nirvana"-Tournee engagierte. Der Titel "Space Christmas" ist eine vogelwilde Mischung und deshalb charakteristisch für Shonen Knife: zuckersüße Melodien, die sich gegen kraftvolle Gitarren-, Bass- und Schlagzeuggewitter durchsetzen müssen. Dazu eine krude Geschichte von einem Weihnachtsmann, der im Bison-Schlitten auf die Erde kommt. Na, dann kann ja nichts mehr schiefgehen.
Bloß nicht auf den Text achten
Auch der Balladenspezialist Greg Lake hat ein Weihnachtslied geschrieben – "I believe in Father Christmas" geißelt falsche Seligkeit im Kerzenschein, Konsum-Exzesse und den Brauch, dass Spannungen und Konflikte zur Weihnachtszeit einfach nur zugekleistert werden. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen dieser sehr kritischen Haltung ist Greg Lakes "I believe in Father Christmas" in den USA extrem beliebt – wobei das Zuhören durch die wohligen Harmonien und die seidige Stimme von Greg Lake leicht gemacht wird – mit entsprechendem Glühwein-Pegel fällt der garstige Text womöglich gar nicht so stark auf.
Sunnyboy mit Familiendrama
Das Prinzip "unbequemer Text, gefällige Musik" lässt sich übrigens noch steigern: Der Country-Barde John Denver, der normalerweise in gleißenden Dur-Akkorden die Schönheit der Rocky Mountains oder des Shenandoa-Flusses besingt, hat mit dem Lied "Please, Daddy, don’t get drunk this Christmas" einen der eigenartigsten Repertoire-Beiträge geleistet.
Dieser Text! Hier wird die Geschichte eines siebenjährigen Jungen erzählt, der seinen Vater anfleht, sich an Weihnachten nicht zu betrinken, weil er schon ahnt, was dann geschieht: Er wird nach oben geschickt, während seine Mutter mit Tränen in den Augen danebensteht und weiß, was dann kommt. Absolut gespenstisch und maximal niederschmetternd. Das wirft Fragen auf: Warum hat Sunnyboy John Denver diesen Titel eingespielt? Warum taucht er gleich auf zwei seiner Alben auf? Wer hört sich sowas an? Und zu welcher Gelegenheit? Der Kosmos "Weihnachtslieder" hält wohl doch weit mehr Rätselhaftigkeiten bereit, als man normalerweise vermuten würde…