Das Gespräch mit Slavoj Žižek im Original auf Englisch:
Audio Player
"Wenn wir Marx treu sein wollen, müssen wir uns von Marx lösen"
Der Philosoph kritisiert die westliche Linke, da sie ökonomische Fragen vermeide. Dafür seien heute die größten Kapitalisten wie Bill Gates, Mark Zuckerberg und Jeff Bezos zugleich große Kapitalismuskritiker: "Erst beuten sie dich aus, und dann versuchen sie, wieder alles gutzumachen."
Slavoj Žižek, der slowenische Philosoph, hat auch in seinem siebzigsten Lebensjahr etwas Hyperaktives. Gleich drei Bücher, die ihn als Autor ausweisen, erscheinen soeben zugleich auf Deutsch – darunter eine Einführung in "Das Kommunistische Manifest".
Žižek hat sich viele Namen gemacht, seit er 1989 die öffentliche Bühne betrat: als Hegel-Interpret, als Popularisierer psychoanalytischen Denkens, als provokativer Leser Lenins, als Kapitalismus-Kritiker. Was gewinnt er – zu Karl Marx’ 200. Geburtstag am 5. Mai – dem alten "Manifest" heute noch ab?
Extremformen der Ausbeutung
Zu Beginn des Gesprächs ein Blick in die gegenwärtige Welt, Beispiel Sklaverei. Selbstverständlich, so Slavoj Žižek, gebe es zeitgenössische Formen der Sklaverei – etwa Kindersoldaten im Kongo –, und selbstverständlich seien solche Extremformen der Ausbeutung integraler Bestandteil des Kapitalismus. Er stellt allerdings klar: "Ich bin kein fanatischer Anti-Kapitalist, ich gebe dem Kapitalismus nicht die Schuld an allem Bösen auf der Welt."
Besonders am Kapitalismus sei, dass er den Apparat bereitstelle, ihn selbst zu kritisieren. Die größten Kapitalisten heute, Konzerngründer wie Bill Gates (Microsoft), Mark Zuckerberg (Facebook) oder Jeff Bezos (Amazon), seien zugleich selbst auch große Kapitalismuskritiker. Sie sähen, dass sich etwa Umweltkatastrophen mit den Mitteln des Kapitalismus allein nicht lösen ließen. Und sie versuchten, durch ihr philanthropisches Engagement, Missstände zu lindern. "Vulgär gesagt, Kapitalisten wie diese geben uns erst Schokolade, die verstopft, und dann Abführmittel. Erst beuten sie dich aus, und dann versuchen sie, wieder alles gutzumachen." So kommt Žižek zur Einschätzung: Heute formulieren die Kapitalisten die Kapitalismuskritik selbst – während die Linke kaum anderes tut, als Besitzstände zu wahren.
"Die Linke vermeidet ökonomische Fragen"
Wie aktuell ist in einer so betrachteten Welt "Das Kommunistische Manifest"? "Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus", heißt es bei Marx und Engels und: "Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht…" Klingt das nicht wie eine Beschreibung der Gegenwart? Nicht ganz, sagt Žižek, denn die Auflösung aller festen Formen sei viel weiter gegangen, als Marx es je hat ahnen können. Die Natur beispielsweise sei im 19. Jahrhundert etwas Gegebenes gewesen, während heute etwa mit der Transgender-Bewegung auch die vermeintlich natürlichen Geschlechter in Rutschen geraten sind.
Auch unter dem "Proletariat" könne heute nicht mehr das gleiche verstanden werden wie zu Marx‘ Zeiten. Denn "der Arbeiter", auch wenn er noch immer ausgebeutet werde, verfüge in Europa über lang erkämpfte Privilegien. Das Proletariat sei heute eher bei Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen zu finden oder unter Migranten.
Insgesamt meint Žižek: "Wenn wir Marx treu sein wollen, müssen wir uns von Marx lösen." Und er erneuert seine Kritik an der westlichen Linken: "Sie vermeidet ökonomische Fragen." Ein Beispiel: Steve Bannon, der ehemalige Berater Donald Trumps, sei gefeuert worden, weil er gegen die Steuerreform des Präsidenten eingetreten sei und stattdessen eine Reichensteuer gefordert habe. "Ein quasi Neofaschist hat die Arbeiter im Blick, etwas, das eigentlich aus der Sozialdemokratie oder aus der linken Ecke hätte kommen müssen. Es läuft etwas grundlegend falsch in dieser Welt."
Freud oder Marx? – "Hegel"
Auf die Frage, welcher Philosoph für ihn der entscheidende sei – Freud oder Marx? –, hat Žižek eine eindeutige Antwort: Hegel. Jedenfalls liege ihm daran, Marxens wohl berühmtesten Satz – "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern" – wiederum umzukehren. Das 20. Jahrhundert habe bewiesen, dass wir die Welt immer wieder zu schnell versucht haben zu verändern. "Wir müssen einen Schritt zurücktreten und die Welt besser interpretieren."
Und was tun? Eine direkte Antwort hat Slavoj Žižek nicht. Denn die Aufgabe der Philosophie sieht er nicht darin, die politische Agenda zu formulieren, sondern die richtigen Fragen zu stellen. Eine dieser Fragen sei die nach den Gemeingütern, nach ökologischen, biogenetischen oder kulturellen "Commons". Was daraus konkret für Handlungen folgen, dazu enthalte er sich. "Ich bin kein Zauberer, der das Kaninchen aus dem Hut zaubert. Ich biete Ihnen den richtigen Hut, und Sie sehen zu, wie sie das Kaninchen aus dem Hut bekommen."
Neue Bücher von Slavoj Žižek
Slavoj Žižek: "Das Kommunistische Manifest. Die verspätete Aktualität des Kommunistischen Manifests"
Übersetzt von Karen Genschow
S. Fischer, Frankfurt am Main 2018
192 Seiten, 10 Euro
Slavoj Žižek: "Der Mut der Hoffnungslosigkeit"
Übersetzt von Frank Born
S. Fischer, Frankfurt am Main 2018
448 Seiten, 20 EUR
Slavoj Žižek: "Disparitäten"
Übersetzt von Axel Walter
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2018
504 Seiten, 44 EUR