Auf der Suche nach der guten Entfremdung
30:22 Minuten
Slavoj Žižek ist Psychoanalytiker, Kommunist - und einer der aufregendsten europäischen Philosophen der Gegenwart. Seit fast zwei Jahrzehnten arbeitet er daran, Lenins Thesen für die Gegenwart zu beleben. Wir fragen nach: Warum?
Der Slowene Slavoj Žižek ist der Popstar der Philosophie - insbesondere in den englischsprachigen Medien ist er omnipräsent. In Deutschland ist er eher ein Feuilleton-Phänomen. Seine Theorien bewegen sich zwischen Lacan'scher Psychoanalyse, Hegelianischer Philosophie, marxistischer Gesellschaftskritik und dem politisch Unbewussten des Hollywoodkinos. Seine Publikationsliste ist kaum überschaubar - in seinem neuen Buch "Lenin heute" wendet er sich wieder einem seiner liebsten Protagonisten des 20. Jahrhunderts zu, an dem er sich seit geraumer Zeit intellektuell abarbeitet.
Eine Art Best-Of unseres Gesprächs:
Was ihn an Lenin interessiert:
"Zwei Momente in Lenins Leben faszinieren mich: Was machte Lenin nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs? Er geht in die Schweiz, um Hegel-Logik zu lesen. Das brauchen wir heute. Wir sind in so einem Nullzustand. Wir müssen ganz neu beginnen. Die Marxisten sagten immer: Die Philosophen haben die Welt immer nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Vielleicht sollten wir als gute Marxisten heute das genaue Gegenteil bestätigen: Vielleicht versuchten wir im 20. Jahrhundert die Welt zu schnell zu verändern? Jetzt ist ein Moment, die Welt neu zu interpretieren: Was geschieht heute? Was ist in China - neuer Kapitalismus, noch immer Kommunismus?
Das ist der wirkliche Schrecken für mich: Diese Perspektive einer direkten Verbindung unseres Denkens im Gehirn und der digitalen Maschinerie. Sind wir alle danach noch immer dieselben Menschen? Gibt es eine post-humane Kultur? Wir leben in einem Moment, wo wir für die Antwort auch auf die Fragen des alltäglichen Lebens die Philosophie brauchen.
Und zweitens, der alte Lenin, der ganz verzweifelt war. Nur ein Detail: Sie kennen wahrscheinlich alle Lenins Testament, in dem er sagte, Genosse Stalin sollte seinen Posten verlieren. Was mich interessiert: Was ist Lenins Argument? Nicht: 'Stalin hat eine falsche politische Linie.' Sondern: 'Stalin hat keine guten Manieren.' Er ist zu brutal. Das ist fast schon eine Obsession des späten Lenins: Zivilisierung, gute Manieren. Heute, in der Donald-Trump-Ära, brauchen wir das."
Über Ideologie im Sozialismus und heute:
"Was mich in den Spätjahren des jugoslawischen Sozialismus fasziniert hat, ist, wie eine Ideologie gut funktioniert, ohne dass diese Ideologie von den Untertanen ernstgenommen wird. Man muss an diese Ideologie nicht glauben, aber dennoch hat sie perfekt funktioniert. Wir sprachen von Demokratie und Rechtsstaat. Die Leute glauben nicht daran, aber es funktioniert. Wir finden das schon bei Marx: der Fetischcharakter der Ware. Die Alltagskapitalisten glauben nicht an Magie. Ideologie ist nicht in unserem Denken. Ideologie ist in unserem Handeln."
Und im weiteren Verlauf des Gesprächs dazu:
"Es ist, als ob wir eine melancholische Sehnsucht nach dem guten alten Totalitarismus haben, als man noch von einer äußeren Instanz kontrolliert wurde. Aber was ich wirklich schrecklich finde, ist, dass es heute im Westen neue Modelle von Kontrolle gibt. Wir werden kontrolliert und reguliert, ohne es zu wissen – durch Digitaltechniken und so weiter. Deshalb finde ich Dinge wie WikiLeaks und die Analyse von Google heute so wichtig. Wir werden heute im freien Westen kontrolliert, reguliert und manipuliert - gerade, wenn wir denken, wir sind frei. Das ist Ideologie heute.
Zum Beispiel: Man bekommt heute keinen permanenten Job mehr, man ist Prekariat. Und die Ideologie sagt uns: Das ist wunderschön. Du bist nicht entfremdet. Du kannst Dich jedes zweite Jahr neu erfinden. Wir leben in einer absolut ideologischen Zeit heute."
Über China:
"Leuten, die sagen, Kommunismus funktioniere nicht, sage ich: Eieiei, es gibt ein Land, wo Kommunismus im formalen Sinne – die kommunistische Partei hat alle Macht – perfekt funktioniert: China in den letzten Jahrzehnten. In der ganzen Menschheitsgeschichte kenne ich kein solches Wirtschaftswunder. Ein kapitalistisches Wirtschaftswunder – ja. Aber das könnte nicht geschehen ohne die Führung der kommunistischen Partei.
Das macht mich, um klar zu sein, wirklich traurig. Diese Kombination eines sehr wilden, brutalen Kapitalismus mit einem autoritären Kommunismus. Die Linke hasst zwei Dinge: Wilden Kapitalismus und autoritäre Macht. In China haben wir eine Kombination daraus – und es funktioniert.
Und ich denke: Es ist nicht nur China. Es gibt eine globale Tendenz in diese Richtung heute. China first, America first, Russia first – ein neuer, autoritärer Kapitalismus. Und das ist vielleicht meine Utopie: Das liberale Erbe ist eine große Sache. Aber nur durch eine neue Linke kann das, was groß am Liberalismus ist, gerettet werden."
Über linke Politik heute:
"Marx war für mich zu optimistisch und zu deterministisch. Marx war für mich ein größerer Idealist als Hegel. Marx glaubte an eine gewisse Teleologie: Es gibt eine historische Notwendigkeit, es geht immer eine Stufe weiter, und dann kommt der Kommunismus. Ich bin da im Hegelschen Sinne pessimistischer: Wir wissen nicht, was kommt."
Und dazu weiter:
"Wir wissen heute, der reale Sozialismus ist nicht unsere Hoffnung, auch die traditionelle Sozialdemokratie nicht. Aber es gibt immer noch diese Idee, lokale Demokratie, lokale Selbstverwaltung, Community und so weiter – ich gab vor einem Jahr in Madrid einen Vortrag mit dem Titel "Plädoyer für einen bürokratischen Sozialismus". Der Stalinismus entsprach dem gerade nicht. Das Problem des Stalinismus war gerade eine ineffiziente Bürokratie. Deshalb gab es immer 'Säuberungen' und so weiter.
In späten Jahren war Lenin wirklich besessen von diesem Problem. Das Problem ist nicht: große Revolution, Millionen Menschen auf der Straße. Das kann jeder Idiot. Der wirkliche Test einer Revolution ist – und Trotzki wusste das genau, auch wenn ich selbst kein Trotzkist bin –, der wirkliche Test einer Revolution ist: Was geschieht ein bisschen später, wenn ein gewisses normales Alltagsleben zurückkehrt? Daran ist die Oktoberrevolution am meisten gescheitert.
Das ist auch das Problem heute: Haben wir ein Modell? Die größte Tragödie heute ist nicht Trump – es ist sehr einfach, linksliberal und ein Trump-Kritiker zu sein. Sondern: Haben wir eine Alternative? Sollen wir einfach nur weiter ein bisschen radikalere Liberal-Demokratie treiben? Wenn doch eine radikalere Verwandlung notwendig ist? Es gibt keine linke Vision, aber sie ist notwendig – unmöglich, aber notwendig."
Darüber, wie er gerne leben möchte:
"Ich habe diese populär-linke Idee, in einer kleiner Gemeinschaft zu leben, wo wir über alle Dinge gemeinsam diskutieren, nie verstanden. Das ist schrecklich. Jeden Nachmittag diskutieren, wo wir Wasser und Elektrizität herkriegen und so weiter.
Ich will eine gute Entfremdung – im Sinne: Es gibt sichtbare Staatsmechanismen, die all das machen. Ich will meine Bücher lesen und meine Bücher schreiben und Filme sehen. Ich denke, das ist, was wir heute rehabilitieren sollen – ganz ernsthaft: Eine gut funktionierende Staatsbürokratie."
(thg)