Wolfgang Ullrich, "Selfies"
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019
80 Seiten, 10 Euro
Wie Selfies unseren Gesichtsausdruck bestimmen
09:06 Minuten
Ein Selfie ist kein erforschendes Selbstporträt wie das eines Malers. Es geht vielmehr mit der Kontrolle der eigenen Mimik einher - als ein Akt der Kommunikation und der Maskierung, meint der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich.
Was steckt noch mehr im Selfie als nur Narzissmus? Eine Menge, findet der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich. Sein jüngstes Buch heißt "Selfies" und ist in der Reihe "Digitale Bildkulturen" erschienen. Selfies seien "ein Bild von einem Bild", meint Ullrich: Man konzentriere sich auf die eigene Mimik und denke bereits über die Filter nach, die man hinterher drüberlegt. "Es geht ja eigentlich viel mehr darum, das Gesicht zum Bild zu machen - das ist ja das eigentlich Interessante daran, dass alle Konzentration darauf liegt und nicht auf dem, was man sich als Bild ausdruckt oder was auf einem Screen erscheint."
Selfie-Posen korrespondieren mit Emojis
Zum negativen Image der Selfies trage auch bei, dass Menschen ihre Gesichter nicht gerade in eine schöne Form brächten, sondern sie grimassenhaft verzerrten, sagt Ullrich - wie die gotischen Wasserspeier, deren Fratzen böse Geister abhalten sollten. "Ich glaube, das hat auch oft die Funktion, dass Menschen sagen wollen: 'Nimm mich nicht zu ernst, sei nicht zu kritisch mit mir!'", meint er. "Es ist eine falsche Vorstellung, dass es bei Selfies darum geht, dass man das eigene Selbst in seiner Individualität, in seiner Unverwechselbarkeit ergründet" - es seien eben keine Selbstporträts von Malern. Stattdessen ginge es eher darum, mit Selfies zu kommunizieren: "Selfies sind letztlich eine Art von Zeichensprache." In der Recherche sei ihm aufgefallen, wie oft Selfie-Posen mit Emojis korrespondierten.
Maske aus Filtern und Grimassen
Ullrich erwartet als Folge des Selfies eine "insgesamt expressivere Gesichtskultur". Viele Menschen würden schon heute Gesichtsausdrücke annehmen, die man von Selfies kennt, auch wenn sie gerade gar keine aufnähmen, hat er beobachtet. Zudem gäbe es immer neue Apps, mit denen man die eigenen Gesichtszüge verfremden kann.
"Mit den herkömmlichen mimischen Möglichkeiten ist man nicht mehr zufrieden", schätzt Ullrich ein. Mit Selfies könne man sich maskieren, sich ein zweites Gesicht geben, sich inszenieren - es gehe nicht mehr darum, zu "einem wahren Selbst" vorzudringen mit dem Abbild der eigenen Person - vielmehr ginge es gerade darum, ein öffentliches Bild von sich zu erzeugen, dass vielleicht mit dem privaten Bild gar nicht viel zu tun hat. (inh)