Smartphone-Sucht

Bedürfnis nach permanenter Zerstreuung

Eine Illustration zeigt ein junges Paar das sich abgelenkt von ihren Smartphones umarmt.
Smartphone-Sucht ist omnipräsent, hat Ann-Kristin Tlusty beobachtet. © imago / Ikon Images / Gary Waters
Überlegungen von Ann-Kristin Tlusty · 17.12.2021
Digitale Abhängigkeit ist ein Symptom unserer Zeit. Warum der Drang nach dem Scrollen und Tippen auf dem Smartphone so hartnäckig ist, dass es kaum ein Entkommen gibt, erklärt die Journalistin Ann-Kristin Tlusty.
"Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen", lautet ein Aphorismus des französischen Philosophen Blaise Pascal.
Auf die Gegenwart angewandt, in der Menschen pandemiebedingt sehr viel Zeit in Zimmern verbringen, deren Decken ihnen längst auf den Kopf gefallen sind, muss man diese These leicht variieren: Das Unglück der Menschen, könnte man sagen, rührt im 21. Jahrhundert daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer sitzen können, ohne auf ihr Smartphone zu gucken.

Digitale Technologie hat Suchtpotenzial

Digitale Sucht ist in den letzten Jahren zum populären Thema geworden, aufbereitet in den immer gleichen Diskursgefäßen: In den allgemeinen Klagen darüber, dass man es trotz festem Vorhaben nicht vermag, die eigene Bildschirmzeit zu reduzieren.
In den Ausstiegsgeschichten ehemaliger Mitarbeiterinnen aus dem Silicon Valley, die im Beichtgestus vom Suchtpotenzial ihrer Technologie berichten. In den clean gestalteten Ratgeberbänden, die zu digitalem Minimalismus aufrufen. In den kulturpessimistischen Prognosen älterer Generationen gegenüber jenen, die mit dem Smartphone-Daumen aufgewachsen sind. Oder auch: Bei entnervten Millennials, deren Boomer-Eltern ihre Handysucht noch weniger im Griff haben als ihre Kinder.
Smartphone-Sucht ist derart omnipräsent, dass man Blaise Pascals Logik hinterfragen muss: Rührt das Unglück wirklich daher, dass der spätmoderne Mensch nicht still sitzen kann? Oder verhält es sich eher so, dass allgemeines Unwohlsein dazu führt, ständig nach digitaler Zerstreuung zu suchen?

Ausgeglichenheit schützt

Diese Annahme legt die sogenannte Mood-Management-Theorie nahe. Menschen setzen demnach Medien gezielt ein, um ihren Stimmungszustand zu manipulieren. Die Theorie stammt aus der Medienpsychologie der 80er-Jahre und bezog sich damals vor allem auf das Fernsehen. Studien zeigten, dass Zuschauerinnen die Stimmung des gezeigten Programms übernahmen, das sie gerade einschalteten.
Im Unterschied zum Fernsehen jedoch schalten die wenigsten heute ihr Smartphone wirklich aus. Stets verfügbar, um unsere Emotionen zu regulieren, ist es permanent in unserer Nähe. Vorschlag für ein Selbstexperiment: Wann greifen Sie zum Smartphone und scrollen wahllos den Instagram-Feed durch, wechseln auf Tinder, um anschließend noch mal zu schauen, ob es derweil was Neues auf Twitter gibt?
Selten wohl in einem Moment, in dem Sie sich ausgeglichen, mit der Welt verbunden und sicher fühlen – und wohl eher in Situationen, denen Sie entweichen möchten, die von Stress, Angst oder Unlust geprägt sind.

"Depressive Hedonie" als Auslöser

Der britische Popkritiker Mark Fisher bezeichnete den Zustand, in dem man sich durch permanente Unterhaltung von der Belastung des Lebens abzulenken versucht, als "depressive Hedonie". Sie sei an die Stelle der klassisch depressiven Anhedonie getreten, also der Unfähigkeit, Freude zu empfinden. Fisher beobachtete diese depressive Hedonie bei seinen handy- und playstationsüchtigen Studierenden – und zeichnete für ihr Verhalten den Neoliberalismus verantwortlich.
Jede kapitalistische Entwicklungsstufe hat einen für sie sinnbildlichen Affekt. War es im Nachkriegswesten die Langeweile, die angesichts von Wohlstand und Massenkonsum auftrat, ist der dominante Affekt unserer Gegenwart wohl die Angst: vor Einsamkeit, Jobverlust, vor Prekarität, Klimakrise oder Wohnungsnot. Doch der Kapitalismus wäre nicht der Kapitalismus, wenn er nicht auch dazu die passende Technologie erschaffen würde – die das Unglück ausbeutet, das er selbst erzeugt.
Smartphone-Sucht ist demnach kein individuelles Leiden. Dass Menschen jeden Alters dem Dopaminkick durch Apps, Feeds und Likes verfallen, hat seine Ursache vielmehr im ängstlichen Grundzustand unserer Zeit, der uns dazu veranlasst, nach ewiger Zerstreuung zu suchen.

Ann-Kristin Tlusty, geboren 1994, hat Kulturwissenschaften und Psychologie studiert. Sie arbeitet als Redakteurin bei „Zeit Online“ in Berlin. Im September 2021 erschien im Hanser Verlag ihr erstes Buch „Süß. Eine feministische Kritik“.

Porträt der Journalistin Ann-Kristin Tlusty.
© Nico Blacha
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