"So eine Art Trauerglocke"

Jochen Kalka im Gespräch mit Susanne Führer |
Der Journalist Jochen Kalka hat mit "Winnenden. Ein Amoklauf und seine Folgen" ein Buch über die Tat des 17-jährigen Tim K. vorgelegt. Der Name Winnenden sei seitdem zu einem Synonym geworden, sagt Kalka.
Susanne Führer: Zwei Jahre ist es her, dass ein 17-Jähriger an seiner ehemaligen Schule in Winnenden zwölf Menschen erschießt, auf seiner Flucht drei weitere Menschen umbringt und sich schließlich selbst erschießt. Der Journalist Jochen Kalka ist ein Bürger Winnendens, er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern in der württembergischen Stadt und hat nun ein Buch darüber geschrieben, wie Winnenden versucht, in die Normalität zurückzukehren. "Winnenden. Ein Amoklauf und seine Folgen" heißt es. Guten Morgen, Herr Kalka!

Jochen Kalka: Guten Morgen, Frau Führer!

Führer: "Winnenden" schreiben Sie in Ihrem Buch, ich zitiere mal, "ist zum Synonym geworden", und Sie meinen wohl damit, man muss gar nicht mehr sagen, Amoklauf von Winnenden, denn Winnenden reicht sozusagen, heute ist also zwei Jahre Winnenden. Was sagen denn die Winnender, wie benennen sie diesen Tag oder diese Tat?

Kalka: Ja, also heute liegt in Winnenden wirklich so eine Art Trauerglocke, ganz besondere Trauerglocke über der Stadt natürlich. Das geht einem sehr nahe, aber es ist wirklich zum Synonym geworden, Winnenden, das beginnt schon damit, wenn Sie irgendwo im Hotel einchecken und Sie schreiben Winnenden dann rein als Adresse, dann kommt fast immer eine Reaktion, ach Gott, Winnenden, ja. Das steht also ... Sie brauchen gar nichts mehr zu erklären, das ist uns sogar im Ausland so gegangen, in Frankreich, und das ging mir sogar einmal in Amerika so. Also das ist unglaublich, wie dieses Wort mit dem eben sogenannten Amoklauf verbunden wird.

Führer: Wahrscheinlich so, wie wenn man sagen würde, ich war auf der Columbine High School. Aber noch mal zur Frage, Herr Kalka: Was sagen denn die Winnender? Die können ja nicht sagen, zwei Jahre Winnenden.

Kalka: Nein, ja, klar, also in Winnenden wird das Wort Amoklauf immer noch vermieden. Man spricht von "es", man spricht eher vom 11. März, die Kinder sprechen bis heute von A, als das A war oder der A war. Es gibt natürlich nicht die Möglichkeit, zu sagen, "als Winnenden war", das wird in Winnenden so nicht gesagt, das geht ja auch gar nicht. Aber man versucht immer noch, das Wort zu vermeiden, und "damals", und "es", oder man umschreibt das, wenn wieder etwas Trauriges passiert, also es ist ein sehr schwieriger Umgang mit dem Begriff.

Führer: Sie waren ja am 11. März 2009 gar nicht in Winnenden, zunächst zumindest nicht, also Sie waren in München. Ihre Frau ist Lehrerin, aber an einer anderen Schule, Ihre Töchter waren sozusagen auch nicht, wie soll man sagen, direkt betroffen, sie waren an diesem Schulkomplex, aber in einem anderen Schulgebäude. Und trotzdem schreiben Sie ja, wie Ihre Familien, offenbar die gesamte Stadt, also bis heute unter dieser Tat leidet, also es gibt so eine Nähe. Ist das so eine ... ich weiß gar nicht, wie es so zu dieser Nähe kommt, ist das so eine gesuchte Nähe, eine erduldete, ertragene Nähe?

Kalka: Das ist was ... ich habe das auch komplett unterschätzt. Ich war, genau wie Sie sagen, zu dem Zeitpunkt in München, ich habe, als ich dann davon erfahren hatte, ich habe es gar nicht fassen können, gar nicht begreifen können, und wollte weitermachen. Ich bin hier Journalist in München. Und dann hat mich mein Chef gezwungen, nach Hause zu fahren - Ihre Familie braucht Sie, hat er gesagt. Und ich habe das wirklich unterschätzt. Ich habe das dann erst gemerkt auf der Fahrt eigentlich und als ich dort war, ich habe gemerkt, die Kinder waren beide über Stunden eingesperrt in ihren Klassenzimmern, und die durften nur von den eigenen Eltern abgeholt werden, nicht von Nachbarseltern oder anderen Verwandten. Dadurch sind einige Kinder bis in den späten Nachmittag oft in der Schule geblieben, obwohl der Täter da schon längst tot war.

Ich weiß auch nicht, was es ist genau, Sie haben dort Bilder gesehen – ich bin natürlich sofort nach Winnenden gefahren –, Sie haben dort Bilder gesehen von Leuten, die auf den Knien zusammengebrochen sind, wildfremde Leute haben sich weinend umarmt und so weiter – das ist so ein Schock. Wissen Sie, in der Schule ist ja ein Gebäude, wo Sie die Kinder in Sicherheit wähnen. Winnenden ist ein Ort, den man sich aussucht, 20 Kilometer von Stuttgart entfernt, wo Frieden herrscht, eine Dorfidylle herrscht oder Kleinstadtidylle herrscht.

Genau aus dem Grund zieht man eben in die Peripherie einer großen Stadt, weil man weiß: Dort passiert nichts. Und dann wird man irgendwie in ein Herz getroffen, und das ist ... Es ist so, dass wirklich alle Einwohner da unglaublich mitgenommen sind, eben auch heute noch. Manche fangen heute erst an, darüber zu sprechen, Nachbarn von uns, ein älteres Paar, hat jetzt am Wochenende das erste Mal ihre Geschichte erzählt, wie sie im Schwimmbad waren und dann die Kinder geflüchtet sind in dieses Schwimmbad, von dem Attentat direkt raus.

Führer: Jochen Kalka im Deutschlandradio Kultur über den Amoklauf von Winnenden und seine Folgen, so lautet ja der Untertitel Ihres Buches, Herr Kalka, "Ein Amoklauf und seine Folgen". Welche Folgen gibt es denn bis heute, können Sie mal so ein, zwei Geschichten erzählen aus Ihrem Buch?

Kalka: Gerne, also klar, direkt am Anfang war eine Fassungslosigkeit da. Die Geschäfte haben alle ihre Dekorationen raus, haben weiße Tücher oder schwarze Tücher in die Schaufenster, Rosen rein, überall war Trauerflor, selbst McDonalds hat über das C eine schwarze Schürze gehängt in dieser Hilflosigkeit. Diese Phase ist natürlich längst vorbei.

Heute ist es so, dass die Kinder immer noch ihre Alpträume haben, man selbst übrigens auch ab und zu. Es ist so, dass zum Beispiel ... bei meiner älteren Tochter hatte ich eines Tages Ketchup im Mäppchen entdeckt, und dann frage ich, wieso hast du Ketchup im Mäppchen? Und dann hat sie gesagt, ja, wenn wieder so was passiert, dass ich mich dann vollschmieren kann und totstellen kann. Oder sie packen an Weihnachten oder an einem Geburtstag immer ein Geschenk nicht aus, aber das machen nicht nur meine Kinder, das machen ganz viele Schüler, damit eben, wenn wieder so etwas passiert, damit man was hat, worüber man sich freuen kann.

Oder jetzt fangen sie plötzlich an, die Kinder, sich fast schon theatralisch zu verabschieden, wenn sie nur raus zum Spielen gehen, ganz laut brüllen sie durchs Haus, "Ich liebe dich", und dann haben wir gesagt, ja, was soll denn diese Theatralik, und dann haben sie gesagt, ja, wir haben drüben in der Schule diskutiert, man muss immer mit Freuden gehen und eine gute Erinnerung lassen, man weiß ja nie, wie der Tag endet. Also es ist schon noch sehr gegenwärtig da einfach in der Stadt, eben diese Folgen des Amoklaufs in Alltagsgeschichten oft.

Führer: Gerade die letzte Geschichte, die Sie erzählen – das finde ich ja, das ist so ein Paradox: Auf der einen Seite muss man ja vergessen, um sozusagen normal weiterleben zu können, und auf der anderen Seite sind das ja Geschichten wiederum, die sehr dafür sorgen, dass nicht vergessen wird.

Kalka: Ja, das mit dem Vergessen ist wirklich ein Thema. Auf der einen Seite will man vergessen, auf der anderen Seite will man eben nicht vergessen, und das ist diese unlösbare Aufgabe auch. Also man merkt es auch, wenn so Stände sind mit Glücksbringern – die haben einen unglaublichen Boom gehabt die letzten zwei Jahre, da stehen die Kinder Schlange und suchen einfach Halt in kleinen Utensilien. Dann gibt es Phasen, dann haben sie die Glücksbringer gerade extra weg, weil sie sie daran erinnern an den Amoklauf, und plötzlich, gerade an Tagen wie heute, wo Jahrestag ist – das war auch letztes Jahr so, dieses Jahr auch –, laufen die Kinder schmuckbehangen oder glücksbringerbehangen rum, und dann sagen sie, dieses eine um den Hals, das soll mich vor Unglück bewahren, das andere soll mir, was weiß ich, den Weg leiten oder sonst was. Das ist wie so eine Abwehr wahrscheinlich, so Mechaniken, um sich zu stabilisieren.

Führer: Sie schreiben ja in Ihrem Buch über Folgen, die man sich so gut vorstellen kann, zum Beispiel, dass jede Polizeisirene oder jeder laute Knall, sei es von einem Feuerwerk, jedem erst mal der Schreck in die Glieder fährt, aber dann auch Folgen, auf die man glaube ich gar nicht so gekommen wäre – zum Beispiel, dass die Stadt eine, wie Sie schreiben, eine Masseninvasion von Kleintieren erlebt hat, also von Hamstern und Meerschweinchen und so weiter, weil die Eltern ihren Kindern diese Kuscheltiere geschenkt haben in der Hoffnung, das würde die ein bisschen trösten –, und andere Folgen, zum Beispiel, wie schwer es war, einen Rektor für die Schule zu finden, für die Albertville-Realschule. Das macht man sich von außen gar nicht so klar.

Kalka: Nein, die Stelle wurde sogar deutschlandweit ausgeschrieben und es hat ewig gedauert. Die Rektorin, die bisherige Rektorin Astrid Hahn, die ursprünglich auch noch ein paar Jahre länger bleiben wollte, hat dann sogar noch freiwillig verlängert, und dann wurde wirklich nach langer Suche überhaupt erst letztes Jahr im November jemand gefunden aus der Region Ludwigsburg, der jetzt eben die Schule, die Schulleitung übernommen hat.

Führer: Herr Kalka, kurz zum Schluss: Sie zeigen sich also mehr als verärgert, also geradezu zornbebend wütend darüber, wie wenig die Waffengesetze geändert wurden. Obwohl damals viel versprochen wurde, ist ja kaum etwas passiert. Aber Sie weisen selbst darauf hin, dass die Winnender, also Ihre Mitbürger bei der letzten Bundestagswahl dann doch wieder den Abgeordneten gewählt haben, der gegen Einschränkungen beim Schießsport ist.

Kalka: Ja, das ist das Traurige. Ich habe in Winnenden und auch von anderen Orten, Ansbach zum Beispiel, nachrecherchiert, wie da die regionalen Bundestagsergebnisse waren, und es war wirklich so, dass diejenigen, die sich für Waffen eingesetzt haben, explizit eben auch in Winnenden weniger Stimmen verloren haben, sie haben alle Stimmen verloren, aber weniger Stimmen verloren haben als ihre Mitbewerber. Das stimmt ein bisschen hoffnungslos. Wissen Sie, es ist ja ... eine Gesetzesänderung von zweien war, dass es jetzt unangekündigte Kontrollen geben kann, die dann doch alle angekündigt waren, auch in Winnenden zum Beispiel.

Führer: Also ob die Waffen sicher verstaut sind?

Kalka: Genau, genau. Und da waren in Winnenden 25 Prozent Beanstandungen. Und wenn Sie ein Stück weiter weg gehen von Winnenden, eine Stunde, nach Heidenheim zum Beispiel, da waren 70 Prozent Beanstandungen, nach dem, was in Winnenden passiert ist. Das ist nicht gerade hoffnungsvoll.

Führer: Jochen Kalka - sein Buch "Winnenden. Ein Amoklauf und seine Folgen" ist in der Deutschen Verlagsanstalt erschienen. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Kalka!

Kalka: Dankeschön, Frau Führer!