So klingt der Antisemitismus von heute
In welcher Form zeigt sich heutzutage der Antisemitismus? Die Wissenschaftler Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz haben Tausende von Briefen und E-Mails an den Zentralrat der Juden und die israelische Botschaft in Berlin ausgewertet - mit erstaunlichen Ergebnissen.
"Ich bin kein Nazi! Aber Ihr gieriger Verein mit seinen dauernden Geldforderungen regt mich auf."
Geschrieben am 30.7.2006. Einer von rund 14.000 Briefen, Postkarten und E-Mails an den Zentralrat der Juden in Deutschland und an die israelische Botschaft in Berlin. Was hier von 2002 bis Anfang 2012 auf dem Tisch oder im Computer landete, haben die Sprachwissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel und der Historiker Jehuda Reinharz analysiert.
Ihr Buch illustriert unzählige - und teilweise kaum erträgliche - Beispiele von mehr oder weniger verdecktem, teils gezieltem, aber auch unbewusstem Antisemitismus. Mit einer so großen Spannbreite von Vorurteilen, von ungefilteter Wut bis hin zu scheinbar wohlmeinenden Ratschlägen an Juden und Israelis hatten selbst die Autoren nicht gerechnet. Sie schreiben:
Wir haben tausendfach verbalisiert irrealen Hass und obsessive Wut gegenüber Juden gesehen, gekoppelt an uralte Stereotype, die nach der Holocausterfahrung aufgedeckt und beseitigt zu sein schienen. Eine Form der Ablehnung, Feindschaft und Abwehrhaltung wurde transparent, die nach den Jahrzehnten der Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit in diesem Ausmaß nicht mehr möglich zu sein schien. So bedrückend die Rezeption der vulgär-antisemitischen Gewalt-Schreiben der Extremisten auch war, viel belastender war für alle an den Textanalysen Beteiligten das Lesen der Schreiben judenfeindlicher Verfasser aus der Mitte der Gesellschaft.
Die Mehrzahl der Briefe stammt nicht aus dem rechts- oder linksextremistischen Milieu. Und: Die meisten Verfasser geben sich zu erkennen – als Schüler, Angestellte und Selbständige, als Beamte oder Akademiker. Auch Pfarrer, Journalisten und Lokalpolitiker, Ärzte und Rechtsanwälte schreiben an den Dachverband der jüdischen Gemeinden oder an die politische Vertretung Israels. Meist mit dem Anliegen oder der Tarnung der Israelkritik äußere mehr als ein Drittel von ihnen eindeutig antisemitisches Gedankengut, resümieren Schwarz-Friesel, Professorin an der TU Berlin und Reinharz, Professor an der Brandeis University in Massachusetts.
Judenfeindlichkeit habe unter den Gebildeten eine lange Tradition, betonen die Wissenschaftler und schlagen einen weiten Bogen von ihrer Entstehung bis hin zu den modernen Äußerungsformen. Sie decken anhand der Briefe einen nicht allzu überraschenden Unterschied auf: Während die rechts- und linksextremen Schreiber Juden vulgär beschimpfen, bedrohen und diffamieren, gibt die Mitte sich antirassistisch und ehrbar. Sie verschlüsselt ihre Angriffe, versteckt sie hinter Legitimierungs- und Rechtfertigungsstrategien wie: "Ich bin durch und durch Humanist" oder: "Sie provozieren das!". Am häufigsten sei die Täter-Opfer-Umkehr, mit der die deutsche Verantwortung für die NS-Zeit relativiert und die Israelis als heutige Täter angeprangert werden sollen.
Israel steht als Hassobjekt im Mittelpunkt des aktuellen Antisemitismus. Der Nahostkonflikt bildet im 21. Jahrhundert den herausragenden Begründungszusammenhang für antisemitische Meinungsäußerungen und dient als Katalysator der Judenfeindschaft. Anti-Israelismus wird nicht nur von rechten oder linken Extremisten, sondern auch von Akademikern und Intellektuellen sowie Vertretern der Gesellschaftsmitte kommuniziert, da er als politisch korrekt ausgegeben werden kann.
Wie Schwarz-Friesel und Reinharz die Sprache sezieren und interpretieren, das zeichnet ihre Untersuchung aus. Welche Form von Kritik an Israel ist legitim, welche judenfeindlich? Wie haben sich die jahrhundertealten Denkkonzepte über Juden sprachlich an die veränderte Realität angepasst? Die Autoren zeigen es an vielen Beispielen. So sei aus dem uralten Klischee des "Wucherers" der sogenannte "nachtragende Holocaustausbeuter" geworden. Das Stereotyp vom "Juden als Fremden" sei heute in der Gleichsetzung von Juden und Israelis wiederzufinden und diene der Ausgrenzung des angeblich "nicht-deutschen Juden".
Das Buch liefert der Wissenschaft und dem öffentlichen Diskurs wichtige Kategorien, um antisemitische Äußerungen klarer zu identifizieren. Wie diese – insbesondere im Internet – zu verhindern sind, bleibt offen. Schade, dass das Buch sehr wissenschaftlich daherkommt und nicht besonders leicht zu lesen ist. Schade auch, dass ein Exkurs oder zumindest ein Verweis fehlt – zur sprachlichen Diskriminierung anderer gesellschaftlicher Gruppen.
Monika Schwarz-Friesel, Jehuda Reinharz: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert
De Gruyter 2013
444 Seiten, 79,95 Euro
Geschrieben am 30.7.2006. Einer von rund 14.000 Briefen, Postkarten und E-Mails an den Zentralrat der Juden in Deutschland und an die israelische Botschaft in Berlin. Was hier von 2002 bis Anfang 2012 auf dem Tisch oder im Computer landete, haben die Sprachwissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel und der Historiker Jehuda Reinharz analysiert.
Ihr Buch illustriert unzählige - und teilweise kaum erträgliche - Beispiele von mehr oder weniger verdecktem, teils gezieltem, aber auch unbewusstem Antisemitismus. Mit einer so großen Spannbreite von Vorurteilen, von ungefilteter Wut bis hin zu scheinbar wohlmeinenden Ratschlägen an Juden und Israelis hatten selbst die Autoren nicht gerechnet. Sie schreiben:
Wir haben tausendfach verbalisiert irrealen Hass und obsessive Wut gegenüber Juden gesehen, gekoppelt an uralte Stereotype, die nach der Holocausterfahrung aufgedeckt und beseitigt zu sein schienen. Eine Form der Ablehnung, Feindschaft und Abwehrhaltung wurde transparent, die nach den Jahrzehnten der Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit in diesem Ausmaß nicht mehr möglich zu sein schien. So bedrückend die Rezeption der vulgär-antisemitischen Gewalt-Schreiben der Extremisten auch war, viel belastender war für alle an den Textanalysen Beteiligten das Lesen der Schreiben judenfeindlicher Verfasser aus der Mitte der Gesellschaft.
Die Mehrzahl der Briefe stammt nicht aus dem rechts- oder linksextremistischen Milieu. Und: Die meisten Verfasser geben sich zu erkennen – als Schüler, Angestellte und Selbständige, als Beamte oder Akademiker. Auch Pfarrer, Journalisten und Lokalpolitiker, Ärzte und Rechtsanwälte schreiben an den Dachverband der jüdischen Gemeinden oder an die politische Vertretung Israels. Meist mit dem Anliegen oder der Tarnung der Israelkritik äußere mehr als ein Drittel von ihnen eindeutig antisemitisches Gedankengut, resümieren Schwarz-Friesel, Professorin an der TU Berlin und Reinharz, Professor an der Brandeis University in Massachusetts.
Judenfeindlichkeit habe unter den Gebildeten eine lange Tradition, betonen die Wissenschaftler und schlagen einen weiten Bogen von ihrer Entstehung bis hin zu den modernen Äußerungsformen. Sie decken anhand der Briefe einen nicht allzu überraschenden Unterschied auf: Während die rechts- und linksextremen Schreiber Juden vulgär beschimpfen, bedrohen und diffamieren, gibt die Mitte sich antirassistisch und ehrbar. Sie verschlüsselt ihre Angriffe, versteckt sie hinter Legitimierungs- und Rechtfertigungsstrategien wie: "Ich bin durch und durch Humanist" oder: "Sie provozieren das!". Am häufigsten sei die Täter-Opfer-Umkehr, mit der die deutsche Verantwortung für die NS-Zeit relativiert und die Israelis als heutige Täter angeprangert werden sollen.
Israel steht als Hassobjekt im Mittelpunkt des aktuellen Antisemitismus. Der Nahostkonflikt bildet im 21. Jahrhundert den herausragenden Begründungszusammenhang für antisemitische Meinungsäußerungen und dient als Katalysator der Judenfeindschaft. Anti-Israelismus wird nicht nur von rechten oder linken Extremisten, sondern auch von Akademikern und Intellektuellen sowie Vertretern der Gesellschaftsmitte kommuniziert, da er als politisch korrekt ausgegeben werden kann.
Wie Schwarz-Friesel und Reinharz die Sprache sezieren und interpretieren, das zeichnet ihre Untersuchung aus. Welche Form von Kritik an Israel ist legitim, welche judenfeindlich? Wie haben sich die jahrhundertealten Denkkonzepte über Juden sprachlich an die veränderte Realität angepasst? Die Autoren zeigen es an vielen Beispielen. So sei aus dem uralten Klischee des "Wucherers" der sogenannte "nachtragende Holocaustausbeuter" geworden. Das Stereotyp vom "Juden als Fremden" sei heute in der Gleichsetzung von Juden und Israelis wiederzufinden und diene der Ausgrenzung des angeblich "nicht-deutschen Juden".
Das Buch liefert der Wissenschaft und dem öffentlichen Diskurs wichtige Kategorien, um antisemitische Äußerungen klarer zu identifizieren. Wie diese – insbesondere im Internet – zu verhindern sind, bleibt offen. Schade, dass das Buch sehr wissenschaftlich daherkommt und nicht besonders leicht zu lesen ist. Schade auch, dass ein Exkurs oder zumindest ein Verweis fehlt – zur sprachlichen Diskriminierung anderer gesellschaftlicher Gruppen.
Monika Schwarz-Friesel, Jehuda Reinharz: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert
De Gruyter 2013
444 Seiten, 79,95 Euro