"So laß‘ uns die goldene Schale leeren …"

Gast: Michael Stegemann, Moderation: Olaf Wilhelmer |
Epochenjahr 1913: Wien steckt mitten im "Experiment Weltuntergang". Und Arnold Schönberg erlebt den größten Triumph seines Lebens – die Uraufführung der gigantischen "Gurre-Lieder". Ein Triumph wider Willen, denn der spätromantische Stil seiner Musik war Schönberg selbst fremd geworden.
Der Krawall war bereits geplant, blieb aber aus. Mit solch einer "schönen" Musik hatte niemand gerechnet – ebenso wenig wie der Komponist mit solch einer "schönen" Reaktion des Publikums gerechnet hatte und den Ovationen im Wiener Musikverein am 23. Februar 1913 prompt fernblieb. Aber was Schönbergs dirigierender Komponistenkollege Franz Schreker da soeben aus der Taufe gehoben hatte, das musste Freund und Feind einfach hinreißen: Die "Gurre-Lieder", eine monumentale Kantate für vier Chöre, Solisten, einen Sprecher und Riesenorchester. Dass im gar nicht so großen "Großen Saal" des Wiener Musikvereins die allgegenwärtigen Goldkarytiden von diesen Klangmassen nicht über den Haufen geweht wurden, grenzt an ein Wunder.

Was war geschehen? Arnold Schönberg, bereits berüchtigter Neutöner der Wiener Musik, hatte mit den "Gurre-Liedern" ein überarbeitetes Frühwerk vorgelegt. Im Jahr 1900 – Schönberg war 26 Jahre alt – hatte er damit begonnen, Gedichte von Jens Peter Jacobsen für Stimmen und Klavier zu vertonen. Der Zyklus ist im mittelalterlichen Dänemark angesiedelt und erzählt von der leidenschaftlichen Liebe zwischen König Waldemar und Tove – bis der Raserei durch einen Mordauftrag der eifersüchtigen Königin Helwig Einhalt geboten wird. In maßlosem Zorn hadert Waldemar mit Gott, als dessen Hofnarren er sich künftig sieht.

Der erste Teil erzählt (mit drei Stimmen) die Liebesgeschichte; der zweite und dritte Teil sowie das abschließende Melodram berichten aus unterschiedlichen Perspektiven von den Folgen, und hier lief Schönberg der Klavierzyklus aus dem Ruder: Ein sehr großes Orchester und ein noch größerer Chor mussten her, damit Schönbergs exquisite Klangfarbenvorstellungen Wirklichkeit werden konnten. Der erste Teil wurde instrumentiert, die weiteren Teile der Komposition erst 1911 vollendet. Damit machte Schönberg die Umbrüche in seiner eigenen Entwicklung offen: Von der spätromantischen Wagner-Nachfolge ("Tristan" und "Götterdämmerung" lassen mehrfach grüßen) gelangte Schönberg zu einem sehr eigenen, spirituell aufgeladenen Expressionismus, dessen Pathos vielen heutigen Musikfreunden fremd ist und das heutige Musiker vor schwierige Herausforderungen stellt. Somit zeigen die meist sehr prominent besetzten Aufnahmen der "Gurre-Lieder" in der Regel kein einheitliches Bild – es scheint, als lasse dieses großartige Werk auch nach einer 100-jährigen Erfolgsgeschichte nur Annäherungen zu.
Der österreichische Komponist Arnold Schönberg (1874-1951)
Arnold Schönberg (1874-1951)© picture alliance / dpa / Bildarchiv