So war es

Von Heike Tauch |
"Ich glaub', Sie sind die Erste, mit der ich überhaupt über diese Sachen spreche. Aber man kann das doch nicht anders erzählen, als wie es gewesen ist." Erna Straub, 101 Jahre, ist die älteste meiner alten Damen, die ich von 2004 bis 2006 interviewte. Die soziale Herkunft der Damen ist ebenso unterschiedlich wie die Orte ihrer Geburt, ihre Bildung, ihre religiösen Bindungen und ihre politischen Positionen. Gemeinsam ist ihnen ihre Schwangerschaft im totalitären Deutschland der Hitlerzeit.
Um Erna Straub in Neubrandenburg zu besuchen, biege ich in den kleinen Weg "An den Friedhöfen". Sie kommt mir entgegen: "An sich bin ich 90 Jahre in diesem Haus alt geworden, 90 Jahre, stellen Sie sich das mal vor. Wie viel Schritte sind das wohl über den Hof. Nun stehen wir auf Abriss. Es soll ja hier eine Straße gebaut werden. Unser Haus steht im Wege. Ob es was wird - ich hab' gesagt, mich bekommt man hier nicht mehr lebend heraus." In ihrem Bett, im kleinen Zimmer unter dem Dach, hat sie ihre vier Söhne zur Welt gebracht.

Die 92-jährige drahtige Hilde Kühn mit bassiger Stimme und typischem Berliner Humor drückt mir 20 Euro in die Hand - "Sie mussten doch auch Benzin bezahlen, um hierher zukommen". Als ehemalige Sägewerksbesitzerin ist sie immer noch Unternehmerin durch und durch. Vier Kindern schenkte sie das Leben, doch das von ihr so begehrte Mutterkreuz bekam sie wegen Metallmangels nicht mehr. In ihrem auf Holzgas umgebauten Mercedes flüchtete sie vor den Russen. Aber dann waren sie doch da: "Wir haben irgendwo gehalten, und da kommt so ein Russe, hat den Kleinen auf den Arm genommen und ist in ein Haus gerannt. Was machst du jetzt als Mutter? Also ich hinterher, auf alles gefasst, hab' gedacht, jetzt bist du dran. Da saß der Russe auf der Bettkante, auf dem Schoß meinen Gisel und gab ihm gerade ein Stück Zucker."

"Was wollen Sie, Sherry oder Port?", fragt mich Else Röder, Jahrgang 1906, als ich ihre Wohnung in Köln betrete. 1941 hatte sie ihre Tochter im "Lebensborn Steinhöring" bei München zur Welt gebracht. Das Kriegsende erlebte sie in Schwabing. "Da kam ein amerikanischer Soldat und schenkte Renate eine Apfelsine, ich hätte sie ihm ja am liebsten vor die Füße geknallt, aber dann sah ich, wie das Kind strahlte, da musste ich mich auch noch höflich bei ihm bedanken."

Anni Wolff, Jahrgang 1913, aus Berlin-Wedding. Seit 1936 lebt sie in Palästina, heute Israel: "Ich bin ganz alleine von Berlin weggegangen. - Mein Sohn hat mir oft Vorwürfe gemacht: Warum hab ich keinen Bruder, keine Schwester? Meinen Eltern haben wir ein Telegramm geschickt. Das war vor dem Krieg. Ich habe so fest daran geglaubt, dass ich sie nachkommen lassen kann. Ich bin nie auf die Idee gekommen, dass das der Abschied fürs Leben war."
Gertrud Maaß, Jahrgang 1913, brachte ihren Sohn 1934 im Weddinger Krankenhaus in Berlin zur Welt, nachdem das Lichtenberger Krankenhaus, wo sie angemeldet war, wegen Renovierung geschlossen war. "Auf dem Weg zum Krankenhaus sind wir am Friseur vorbei, da hab ich gesagt, noch schnell den Kopf waschen, 60 Pfennig oder was das kam. Waschen und Legen. Ich dachte, dann hat das Kind vielleicht auch schöneres Haar. Ich war ja so dumm und so unerfahren".

Agnes-Marie Grisebach, Schauspielerin und Bestseller-Autorin, schrieb mit 75 ihren ersten Roman "Eine Frau Jahrgang 13". Heute wohnt sie wieder in ihrem Haus in Ahrenshoop, das der letzte Vorsitzende der Ost-CDU, Gerald Götting, sich vergeblich anzueignen suchte. "Angefangen Theater zu spielen, hab ich 1935. Dann hat mich mein erster Regisseur gleich ins Bett befördert und den hab ich geheiratet. Das war 1936. Das war der größte Blödsinn meines Lebens. Der wollte immer mehr Kinder und ich eigentlich auch. Ich fand das wunderschön, Kinder zu kriegen, aber mit der Karriere war es aus. Ich war so unerfahren und so doof."
Heike Tauch

Ruth Elias
Die Hoffnung erhielt mich am Leben.
Mein Weg von Theresienstadt und Auschwitz nach Israel.
1990 Piper
Ruth Elias hat in diesem Buch die Geschichte ihres Überlebens in Theresienstadt und Auschwitz für die Nachgeborenen erzählt. Sie sieht Tausende ihrer Leidensgenossen sterben, bringt ein Kind zur Welt und tötet es, als der KZ-Arzt Dr. Mengele Experimente an ihm durchführen will. Ein Dokument von gleicher Authentizität wie die Klemperer-Tagebücher.
(Das Buch ist Antiquarisch erhältlich.)
Cinematographie des Holocaust
Dokumentation und Nachweis von filmischen Zeugnissen.
Ein Projekt des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt am Main
In Sascha Feucherts "Holocaust-Literatur: Auschwitz" erzählen Häftlinge und Täter vom "Leben"' im KZ - interessant, ergreifend, nah.
Holocaust-Literatur, Auschwitz
Für d. Sek.I.
Hrsg. v. Sascha Feuchert.
2000 Reclam, Ditzingen
"Wissen und Erinnerung sind ein und dasselbe", so hatte Saul Friedlander einmal gesagt. Die Schüler werden nahezu unerträgliche Zeugnisse lesen müssen, zum Beispiel das von Ruth Elias, die heute noch in Israel lebt, über Geburt und Tod ihres Kindes, wobei Mengele eine teuflische Rolle spielte (S. 114-126).

Agnes-Marie Grisebach, 1913 in Berlin geboren, besuchte die Schauspielschule in München und arbeitete dort und in Breslau am Theater, 1936 heiratete sie und lebte als Hausfrau und Mutter in Rostock. Ende 1951 floh sie, inzwischen geschieden, mit ihren vier Kindern in den Westen und arbeitete bis 1973 in einer Fabrik in Heidelberg. Erst als Rent-nerin konnte sie sich dem Schreiben widmen. Heute lebt sie in ihrem wiedergewonnenen Haus an der Ostsee.
S. Fischer Verlag: Agnes-Marie Grisebach

Louise Grisebach
Eine Frau Jahrgang 13
Eine Frau im Westen; Von Anfang zu Anfang.
2006 Fischer (TB.), Frankfurt
Agnes-Marie Grisebach, geboren 1913 in Berlin, war Schauspielerin und nach der Heirat Hausfrau und Mutter. Ende 1951 floh sie mit vier Kindern aus der DDR in den Westen. Als Rentnerin begann sie zu schreiben; sie lebt heute in ihrem wiedergewonnenen Haus an der Ostsee.

Louise Grisebach
Die Dame mit dem Schleierhütchen
Erzählungen
2005 Rowohlt TB.
Louise Grisebach
Von Anfang zu Anfang
von Grisebach, Agnes-Marie;
Kartoniert
Eine Frau Jahrgang 13 erzählt vom Ende des letzten Jahrhunderts. Fischer Taschenbücher Bd.15991 251 S. 19 cm 225g , in deutscher Sprache.
2003 Fischer (TB.), Frankfurt
Im dritten Band ihrer Autobiographie blickt sie zurück auf die letzten 30 Jahre des 20. Jahrhunderts, erzählt, wie sie mit 70 ihr erstes Buch schrieb, das zu einem Bestseller wurde, beschreibt, wie sie die Wende erlebte und schließlich in ihr Heimathaus, in Ahrenshoop an der Ostsee, zurückkehren konnte. Stationen eines bewegten Lebens.Vom Leben und Überleben in schwierigen Zeiten. Eine Frau von 90 Jahren erzählt mit viel Herz und Charme vom Ende des letzten Jahrhunderts.

Louise Grisebach
Frauen im Korsett
Zwei ledige Bürgertöchter im 19. Jahrhundert.
Die Frau in der Gesellschaft.
1997 Fischer (TB.), Frankfurt
Louise Grisebach, die Urgroßtante der Autorin, und ihre Freundin Amalie Hassenpflug waren zwei sehr begabte Frauen, zu deren Umkreis Persönlichkeiten wie die Brüder Grimm, Clemens von Brentano und Annette von Droste-Hülshoff gehörten. Doch sie lebten in einer Gesellschaft, die weiblichen Verstand als ebenso anstößig empfand wie weibliche Sinnlichkeit. In der bewegenden Biographie dieser beiden Bürgertöchter entwirft Agnes-Marie Grisebach ein Bild vom Frauenschicksal im 19. Jahrhundert und schildert anschaulich das alltägliche Leben in dieser Zeit.
Weiterer Literaturtipp:
Ruth Klüger
Weiter leben
Eine Jugend. Ausgezeichnet mit dem Rauriser Literatutpreis 1993, dem dem Marie Luise Kaschnitz-Preis 1994 und dem Johann-Jakob-von-Grimmelshausen-Preis 1993.
1994 DTV
Ruth Klüger
Weiter leben
Von Sascha Feuchert
2004 Reclam, Ditzingen
Ruth Klügers autobiographisches Werk weiter leben gehört jenen wichtigen Titeln der sog. "Erinnerungsliteratur", die neben dem Tagebuch der Anne Frank auch in die Schulen Eingang gefunden haben. Sascha Feuchert, Mitarbeiter der Arbeitsstelle Holocaust-Literatur in Gießen, erschließt den Text in Einzelstellenkommentaren, bietet interessante Quellentexte und fasst die Forschung zum Thema zusammen.

Die Autorin:
Heike Tauch, geboren 1965 in Berlin, studierte Germanistik und Musik, arbeitet seit 1992 fürs Radio.
Zuletzt inszenierte sie das Hörspiel "Zwei sehr ernsthafte Damen" von Jane Bowles (DKultur 2005).
Jane Bowles
Zwei sehr ernsthafte Damen.
Roman.
2001 Wagenbach

Chrismon: Schwanger zu Hitlers Zeiten
Drei alte Damen, und nur eine Gemeinsamkeit: Ihr erstes Kind brachten sie in der Nazizeit zur Welt – erscheinen in der Oktober-Ausgabe 2006 in Chrismon