Social-Media-Kontroversen

Dem Klick-Reiz widerstehen

Viele unterschiedliche Sprechblasen.
In Deutschland steht es jedem frei, seine Meinung zu äußern. Manchmal bestehe Freiheit aber auch darin, es nicht zu tun, meint der Journalist Simon Strauß. © imago / YAY Images / sergey_nivens
Gedanken von Simon Strauß |
Debatten kochen im Internet schnell hoch. Jeder fühlt sich berufen, etwas zum aktuellen Thema zu posten. Dabei sei Zurückhaltung oft die bessere Wahl, meint der Journalist Simon Strauß.
Reizend wollen wir alle sein, aber sind wir nicht vor allem eines: gereizt? Wovon lassen wir uns nicht alles reizen? Welchen Reizen geben wir nicht alles nach? Dem Reiz der flächendeckend-floskelhaften Neujahrswünsche zum Beispiel. Manche können ja gerade wieder gar nicht genug davon kriegen und grüßen und wünschen und hoffen, was das Zeug hält. Jede noch so entfernte Bekanntschaft, jede noch so ungeliebte Kollegin soll ein frohes neues Jahr oder – gerne auch hemdsärmeliger – ein frohes Neues haben.
Es ist, als ob der fromme Wunsch vor allem deswegen so inflationär gebraucht wird, weil er für ein paar Wochen das spannungslose „Wie geht es?“ ersetzt. Aber wer wünscht schon ernsthaft? Und vor allem: Was würde es wirklich bedeuten, so ein frohes neues Jahr? Für andere Breitengrade muss die Frage gerade in Kriegszeiten rhetorisch klingen. Bei uns in Deutschland aber, wo der Krieg ja bekanntlich vor allem im Kulturellen ausgefochten wird, liegt die Antwort paradoxerweise genau dort: im Bereich der Rhetorik.

Das Reiz-Reaktions-Schema durchbrechen

Ein echtes frohes Neues würde nämlich bedeuten, dass wir das fatale Reiz-Reaktions-Schema durchbrechen, das unser aller Bewusstsein bestimmt. Jenen inzwischen fest eingerasteten Mechanismus, der sich in Clickbaits, Tweets, Shitstorms, Crowd-Pleasing und Cancel-Gebärden Bahn bricht und millionenfach Bindungen zerstört. Jenen Mechanismus, der entweder radikal ausgrenzt oder hyperaktiv eingemeindet. Jenen Mechanismus, der von Verdächtigungen, Vorurteilen und heruntergelassenen Visieren lebt. 
In unseren Breitengraden steht es uns glücklicherweise frei, jederzeit unsere Meinung zu äußern. Aber nicht nur der gerade zu Grabe getragene Papst emeritus Benedikt hat immer wieder gemahnt, dass eine Freiheit, die an die Stelle von Solidarität und Mitgefühl tritt, nur falscher Schein sein kann, dass dort, wo Freiheit als Vorwand dient und in Wahrheit nur blankes Eigeninteresse verdeckt, keine Chance auf die freie Entfaltung von Gemeinsamkeiten besteht.

Die Freiheit, sich nicht zu äußern

Andersherum gewendet bedeutet das: Wahre Freiheit drückt sich mitunter dadurch aus, nicht immer gleich von ihr Gebrauch zu machen. Soll heißen: Dem Reiz der direkten Meinungsäußerung zu widerstehen, kann manchmal bedeuten, Mitgefühl zu zeigen. Also: Einen provokanten Tweet einfach einmal unkommentiert vorbeiziehen lassen, einen bemüht unkorrekten Witz mit kühlem Sarkasmus statt aufgebrachtem Moraleifer begegnen, eine aufgewühlte Klimaschützerin nicht mit Anteilnahme, aber vielleicht zumindest mit Staunen zu betrachten.
Den Reiz-Reaktions-Mechanismus zu durchbrechen, hieße aber beispielsweise auch, dem Impuls zu widerstehen zu gendern, nur, weil alle anderen im Raum es gerade tun. Hieße andererseits ebenfalls, dem reflexhaften Reiz zu widerstehen, sich aufzuregen, nur, weil der Sitznachbar ausdrucksvoll das Binnen-I ausspricht.

Sich nicht reizen lassen

Das Gefährliche an den Reiz-Reaktions-Mechanismen in Zeiten des Digitalkapitalismus ist, dass sie rasend schnell unbewusst werden: Wer sich für Friedensverhandlungen mit Russland ausspricht, kann nur ein Putin-Verehrer sein, wer für Waffenlieferungen plädiert, ist ein von der Rüstungsindustrie bezahlter Kriegstreiber, wer Böller anzündet, will Polizisten ermorden, wer eine vegane Merguez isst, will das Volk umerziehen. So rastet der Mechanismus in unseren Köpfen permanent aus und ein.
Die Freiheit, auf Reize zu reagieren ist eine trügerische. Denn in Wahrheit schadet sie uns im Inneren. Davon lebt bekanntlich der Markt – nicht nur bei Genussmitteln. Die Reize vorbeiziehen zu lassen, nicht zu reagieren, obwohl es einen in den Klickfingern juckt – das wäre dagegen fast schon ein anarchistischer Akt, ein wirklich emanzipatorisches Verhalten. Es kommt in diesen ersten Tagen des neuen Jahres bei vielen sehr auf die Vorsätze an. Noch wichtiger aber sind die Einsichten, und eine besonders wertvolle lautet: Nur wer sich nicht reizen lässt, kann reizend werden.

Simon Strauß, geboren 1988 in Berlin, studierte Altertumswissenschaften und Geschichte in Basel, Poitiers und Cambridge. Er ist Mitorganisator des „Jungen Salons“ in Berlin. Seit Oktober 2016 ist er Redakteur im Feuilleton der FAZ. 2017 veröffentlichte er sein erzählerisches Debüt „Sieben Nächte“. Seit 2018 gehört er zum Vorstand des Vereins Arbeit an Europa e. V., im Januar 2023 erscheint sein neues Buch „zu zweit“.

Ein Mann im Anzug: der Journalist Simon Strauß
© Julia Zimmermann
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