Sodom und Gomorrha in Neapel
Er gehört zu den Umstrittenen der Literatur des 20. Jahrhunderts. Zunächst ein Anhänger des italienischen Faschismus wurde er später von Mussolini auf eine Insel verbannt. Der Umschlag von "Die Haut" zeigt Curzio Malapartes Verhaftungsfotos. Der Erfolgsroman, 1949 erstmals erschienen, spielt in der Zeit des alliierten Vormarsches an der italienischen Südfront. Jeder versucht, seine Haut zu retten, und Neapel verwandelt sich in ein Sodom und Gomorrha.
Curzio Malaparte, der eigentlich Kurt Erich Suckert hieß und von 1898-1957 lebte, gehört wie Gottfried Benn und Louis Ferdinand Céline zu den großen Umstrittenen in der Literatur des 20. Jahrhunderts – Autoren, die durch ihre schockgefrostete Intellektualität, ihre zeitweiligen Sympathien mit der falschen Seite und ihre schonungslose, tabubrechende Darstellungsweise irritierten und bis heute faszinieren.
Malaparte beteiligte sich 1922 an Mussolinis Marsch auf Rom und wurde in den folgenden Jahren einer der wichtigsten Köpfe des italienischen Faschismus. Seine Kritik an Hitler war allerdings von Anfang an entschieden. Auch mit Mussolini wuchsen die Differenzen, so dass der Duce ihn 1933 auf die Insel Lipari verbannte – die Bilder auf dem Buchumschlag von "Die Haut" sind Malapartes Verhaftungsfotos.
Später, als Frontberichterstatter im Zweiten Weltkrieg, kam er weit herum. Seine Erfahrungen hat er, gemischt mit tolldrastischen Erfindungen, in seinem ersten großen Erfolgs- und Skandalbuch "Kaputt" verarbeitet. Von Pogromen und Partisanenkämpfen eilt der Erzähler hier zu den Festtafeln der Mächtigen und Tyrannen. Noch kurz vor Kriegsende erschienen, bietet "Kaputt" den Untergang des Abendlandes als Karneval des Grauens.
Der Titel seines zweiten Erfolgsromans aus dem Jahr 1949, "Die Haut", steht für die schlichte Tatsache, dass die Menschen in Zeiten des Krieges vor allem eines zu retten versuchen: ihre nackte Haut. Das Buch spielt in der Zeit des alliierten Vormarsches an der italienischen Südfront im Jahr 1943. Neapel ist die erste große Stadt, die (ein Dreivierteljahr vor dem D-Day in der Normandie) besetzt wird. Am 1. Oktober 1943 treffen die Amerikaner dort ein – und bringen die "Pest".
Es ist keine Krankheit, die die Körper, sondern die Seelen zersetzt. Malaparte stellt die Befreiung durch die Amerikaner nicht als glückhaftes, sondern wiederum unheilträchtiges Unternehmen dar. Er zeigt drastisch, was im schönen Wort "Befreiung" nicht mitklingt: dass sie auch eine Form der erniedrigenden Unterwerfung ist, bei der aller Stolz vor die Hunde gehen kann. Das faschistische Italien hat den Krieg mit den Deutschen "ruhmreich verloren", wie es an einer Stelle höhnisch heißt, um ihn an der Seite der Alliierten doch noch zu gewinnen. Diese paradoxe Situation trägt bei zur Verwirrung aller Gefühle.
Was der Krieg und die Knechtschaft nicht vermochten, nämlich die Menschen zu "brechen" und moralisch zu korrumpieren, das geschieht nun. Neapel verwandelt sich in ein Sodom und Gomorrha. Jede Frau scheint sich, dem nackten Überleben zuliebe, für die Sieger zu prostituieren. Väter bieten ihre jungfräulichen Töchter für ein paar Dollar oder eine Dose corned beef den "Negersoldaten" feil.
Umgekehrt scheint noch die ärmste neapolitanische Familie sich ihren höchstpersönlichen schwarzen "Sklaven" leisten zu können – es sind grelle, durchaus abgeschmackte, allerdings auch literarisch packende Szenen, in denen Malaparte die Verworfenheit und Desorganisation in der Stadt schildert. Es ist ein "Clash" der Zivilisationen. Das dekadente, mürbe Europa ergibt sich in lust- und peinvoller Entwürdigung dem frisch-fromm-fröhlichen, bubblegumblasenden american way of war, der gegen das "Böse" vorgeht als wäre es eine Angelegenheit der Hygiene.
Neapel – die "geheimnisvollste Stadt Europas", eine Gründung des Altertums, ein Pompeji, das niemals verschüttet wurde – ist jedoch nicht zu begreifen von der gesunden amerikanischen Vernunft. Der Erzähler Malaparte ist als Offizier des italienischen Befreiungschors zugleich Verbindungsmann bei den Amerikanern; er übernimmt die Rolle des Fremdenführers, dem oft nur eine verzweifelte Komik bleibt. Nicht selten agiert er als eine Art Tischhumorist, der den Besatzern lachend Wahrheiten sagt, die sie nicht verstehen können, und der gelegentlich als "dieser lästige Italiener" gescholten wird. Vermittlung scheint kaum möglich. Aber sowohl die italienische wie die amerikanische Seite wird vom Erzähler, bei aller jeweiligen Unzulänglichkeit, mit Sympathie gezeichnet.
Malaparte bedient sich eines drastischen, expressionistisch geschulten Stils. "Die Haut" enthält Bilder vom Krieg, die der Phantasie eines Goya oder Hieronymus Bosch entstammen könnten. Man liest, neben den Schilderungen des italienischen Krieges, Szenen des europäischen Grauens: über die in Bäumen erhängten ukrainischen Juden, gespenstisch wispernd im "schwarzen Wind", oder über die phosphorverklebten Menschen im bombardierten Hamburg. Bis zum Hals stehen sie im Wasser der Kanäle oder haben sich eingegraben, weil sie bei jeder Berührung mit Luft und Sauerstoff sogleich wieder wie Fackeln zu brennen beginnen. Das sind danteske Höllen-Szenen, heftig stilisiert, aber doch erschütternd und unvergesslich.
Es stellt sich die Frage, ob die realen Schrecklichkeiten des Zweiten Weltkriegs noch literarisch überhöht und ins Groteske getrieben werden müssen. Genügt nicht das schlicht Dokumentarische? Es gehört jedoch zum Reiz des Buches, dass die Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen, zwischen Neorealismus und bisweilen obszöner Phantastik fließend und unsicher bleiben. Das kann bei heutigen Lesern, die sich schwer in Kriegs- und Nachkriegszustände hineindenken können, Irritationen verursachen. Korrekt ist dies alles gewiss nicht, aber vielleicht wahr? Zumindest dann, wenn man Wahrheit im Sinne der Übertreibungskunst versteht, die man nicht bei einem Thomas Bernhard loben und bei einem Malaparte als mangelnde moralische Integrität tadeln kann.
"Die Haut" war in den vierziger Jahren ein Bestseller; der Vatikan setzte es auf den Index, die Stadt Neapel verhängte einen Bann über den Autor. Heute fragt man weniger nach der dokumentarischen Authentizität des Buches; man liest einen großen Roman.
Curzio Malaparte: Die Haut. Roman.
Aus dem Italienischen von Hellmut Ludwig.
Mit einem Nachwort von Thomas Steinfeld.
Paul Zsolnay Verlag 2006, 445 S., 25,90 Euro
Malaparte beteiligte sich 1922 an Mussolinis Marsch auf Rom und wurde in den folgenden Jahren einer der wichtigsten Köpfe des italienischen Faschismus. Seine Kritik an Hitler war allerdings von Anfang an entschieden. Auch mit Mussolini wuchsen die Differenzen, so dass der Duce ihn 1933 auf die Insel Lipari verbannte – die Bilder auf dem Buchumschlag von "Die Haut" sind Malapartes Verhaftungsfotos.
Später, als Frontberichterstatter im Zweiten Weltkrieg, kam er weit herum. Seine Erfahrungen hat er, gemischt mit tolldrastischen Erfindungen, in seinem ersten großen Erfolgs- und Skandalbuch "Kaputt" verarbeitet. Von Pogromen und Partisanenkämpfen eilt der Erzähler hier zu den Festtafeln der Mächtigen und Tyrannen. Noch kurz vor Kriegsende erschienen, bietet "Kaputt" den Untergang des Abendlandes als Karneval des Grauens.
Der Titel seines zweiten Erfolgsromans aus dem Jahr 1949, "Die Haut", steht für die schlichte Tatsache, dass die Menschen in Zeiten des Krieges vor allem eines zu retten versuchen: ihre nackte Haut. Das Buch spielt in der Zeit des alliierten Vormarsches an der italienischen Südfront im Jahr 1943. Neapel ist die erste große Stadt, die (ein Dreivierteljahr vor dem D-Day in der Normandie) besetzt wird. Am 1. Oktober 1943 treffen die Amerikaner dort ein – und bringen die "Pest".
Es ist keine Krankheit, die die Körper, sondern die Seelen zersetzt. Malaparte stellt die Befreiung durch die Amerikaner nicht als glückhaftes, sondern wiederum unheilträchtiges Unternehmen dar. Er zeigt drastisch, was im schönen Wort "Befreiung" nicht mitklingt: dass sie auch eine Form der erniedrigenden Unterwerfung ist, bei der aller Stolz vor die Hunde gehen kann. Das faschistische Italien hat den Krieg mit den Deutschen "ruhmreich verloren", wie es an einer Stelle höhnisch heißt, um ihn an der Seite der Alliierten doch noch zu gewinnen. Diese paradoxe Situation trägt bei zur Verwirrung aller Gefühle.
Was der Krieg und die Knechtschaft nicht vermochten, nämlich die Menschen zu "brechen" und moralisch zu korrumpieren, das geschieht nun. Neapel verwandelt sich in ein Sodom und Gomorrha. Jede Frau scheint sich, dem nackten Überleben zuliebe, für die Sieger zu prostituieren. Väter bieten ihre jungfräulichen Töchter für ein paar Dollar oder eine Dose corned beef den "Negersoldaten" feil.
Umgekehrt scheint noch die ärmste neapolitanische Familie sich ihren höchstpersönlichen schwarzen "Sklaven" leisten zu können – es sind grelle, durchaus abgeschmackte, allerdings auch literarisch packende Szenen, in denen Malaparte die Verworfenheit und Desorganisation in der Stadt schildert. Es ist ein "Clash" der Zivilisationen. Das dekadente, mürbe Europa ergibt sich in lust- und peinvoller Entwürdigung dem frisch-fromm-fröhlichen, bubblegumblasenden american way of war, der gegen das "Böse" vorgeht als wäre es eine Angelegenheit der Hygiene.
Neapel – die "geheimnisvollste Stadt Europas", eine Gründung des Altertums, ein Pompeji, das niemals verschüttet wurde – ist jedoch nicht zu begreifen von der gesunden amerikanischen Vernunft. Der Erzähler Malaparte ist als Offizier des italienischen Befreiungschors zugleich Verbindungsmann bei den Amerikanern; er übernimmt die Rolle des Fremdenführers, dem oft nur eine verzweifelte Komik bleibt. Nicht selten agiert er als eine Art Tischhumorist, der den Besatzern lachend Wahrheiten sagt, die sie nicht verstehen können, und der gelegentlich als "dieser lästige Italiener" gescholten wird. Vermittlung scheint kaum möglich. Aber sowohl die italienische wie die amerikanische Seite wird vom Erzähler, bei aller jeweiligen Unzulänglichkeit, mit Sympathie gezeichnet.
Malaparte bedient sich eines drastischen, expressionistisch geschulten Stils. "Die Haut" enthält Bilder vom Krieg, die der Phantasie eines Goya oder Hieronymus Bosch entstammen könnten. Man liest, neben den Schilderungen des italienischen Krieges, Szenen des europäischen Grauens: über die in Bäumen erhängten ukrainischen Juden, gespenstisch wispernd im "schwarzen Wind", oder über die phosphorverklebten Menschen im bombardierten Hamburg. Bis zum Hals stehen sie im Wasser der Kanäle oder haben sich eingegraben, weil sie bei jeder Berührung mit Luft und Sauerstoff sogleich wieder wie Fackeln zu brennen beginnen. Das sind danteske Höllen-Szenen, heftig stilisiert, aber doch erschütternd und unvergesslich.
Es stellt sich die Frage, ob die realen Schrecklichkeiten des Zweiten Weltkriegs noch literarisch überhöht und ins Groteske getrieben werden müssen. Genügt nicht das schlicht Dokumentarische? Es gehört jedoch zum Reiz des Buches, dass die Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen, zwischen Neorealismus und bisweilen obszöner Phantastik fließend und unsicher bleiben. Das kann bei heutigen Lesern, die sich schwer in Kriegs- und Nachkriegszustände hineindenken können, Irritationen verursachen. Korrekt ist dies alles gewiss nicht, aber vielleicht wahr? Zumindest dann, wenn man Wahrheit im Sinne der Übertreibungskunst versteht, die man nicht bei einem Thomas Bernhard loben und bei einem Malaparte als mangelnde moralische Integrität tadeln kann.
"Die Haut" war in den vierziger Jahren ein Bestseller; der Vatikan setzte es auf den Index, die Stadt Neapel verhängte einen Bann über den Autor. Heute fragt man weniger nach der dokumentarischen Authentizität des Buches; man liest einen großen Roman.
Curzio Malaparte: Die Haut. Roman.
Aus dem Italienischen von Hellmut Ludwig.
Mit einem Nachwort von Thomas Steinfeld.
Paul Zsolnay Verlag 2006, 445 S., 25,90 Euro