Sofia Yablonska: "Der Charme von Marokko. Travelogue"
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe mit einem Nachwort von Olena Haleta
Kupido 2020
136 Seiten Text und historische Fotos, 24,80 Euro
Faszination des Unbekannten
06:17 Minuten
Im Jahr 1929 reiste die Ukrainerin Sofia Yablonska durch Marokko, das sie mit großer Empathie und Begeisterung in ihren Tagebüchern beschreibt. Statt Faktenwissen und ethnographischer Details tritt der titelgebende "Charme von Marokko" hervor.
Als sich die Ukrainerin Sofia Yablonska im Frühjahr 1929 zu ihrer ersten mehrmonatigen Reise nach Marokko aufmachte, hatte sie mit 22 Jahren bereits ein bewegtes Leben hinter sich. Als Tochter eines griechisch-katholischen Priesters aus dem galizischen Teil des Habsburgreichs nahe Lemberg geboren, in den Revolutionsjahren mit der Familie umhergetrieben im Russischen Reich, ging sie in den 20er-Jahren nach Paris, wo sie sich als Schauspielerin und Modell versuchte.
Ihre mehrjährigen Reisen führten sie später rund um den Globus. 15 Jahre lebte sie mit Mann und drei Kindern in China, um schließlich nach Frankreich zurückzukehren, wo sie 1971 in der Folge eines Autounfalls starb.
Schwärmerische, tagebuchartige Notizen
Wie stark Persönlichkeit und Schreiben miteinander verwoben sind, zeigt der leichtfüßige Erstling Yablonskas von 1932, der jetzt erstmal auf Deutsch erscheint "Der Charme von Marokko" ist ein Buch des Staunens. Im Vordergrund steht die unmittelbare Wahrnehmung der jugendlichen Erzählerin: ihre Begeisterungsfähigkeit für die fremde Kultur.
"Ich weiß gar nicht, womit ich beginnen soll. Diese Macht der Eindrücke, Reize und Entdeckungen, diese Fülle und Kraft der Farben und Formen, viel lieber würde ich statt Wort für Wort zu Papier zu bringen alles fotographieren."
Tatsächlich versammelt der Band neben kurzen Kapiteln mit schlichten Titeln wie "Kamele" oder "Unterwegs" auch zwei Dutzend Fotos, die die Inhalte illustrieren. Im schwärmerischen, tagebuchartigen Ton skizziert Yablonska Begegnung mit Schaustellern, Heilern oder Feuerschluckern, wobei neben deren genau beschriebener Optik immer auch deren Wirkung thematisiert wird. So bringt der Schlangenfresser in einer ausführlichen Szene sein Publikum zunächst mit kleinen Scherzen zum Lachen, steigert subtil die Spannung und bringt die ergötzte Menge schließlich zum Rasen, als er den Kopf des erschöpften Tieres durchbeißt.
Kritische Situationen mit Einheimischen meistern
Die eigene Faszination Yablonskas mit dem Unbekannten schimmert immer durch, vor allem, wenn sie selbst im Zentrum eines Abenteuers steht. So fährt sie mit Sondergenehmigung an der Seite eines französischen Fahrers in die aufständischen Wüstengebiete Marokkos, wo neben einem Autounfall diverse weitere kritische Situationen mit Einheimischen gemeistert werden müssen – und sogar der Tod durch Verdursten dank einer plötzlich aufgetauchten Oase im letzten Moment verhindert werden kann. Das klingt ausgedacht und ist doch genau beschrieben.
Nach einer Szene aus Tausendundeiner Nacht klingt auch ein Haremsbesuch, bei dem die Autorin allen sieben Frauen des Hausherrn vorgestellt wird und der elfjährigen Jüngsten gebannt beim Tanzen zuschauen darf. Yablonska stellt nicht infrage, sie bleibt vor allem fasziniert. Und sie legt nicht zuletzt Wert auf ihre ukrainische Identität, die sie in Gesprächen gern akzentuiert.
Eher Empathie als Fakten
Als Frau aus der europäischen Peripherie hat Sofia Yablonska einen besonderen Blick. Sie kann das Gefühl der Marokkaner nachempfinden, als "Underdogs", unter französischer Herrschaft zu leiden. Diese Empathie und ihre Begeisterungsfähigkeit machen bei aller Naivität den Charme dieses Reiseberichts aus. Faktenwissen oder ethnographische Details fehlen. Man gewinnt nach der Lektüre des Buchs vor allem atmosphärische Eindrücke über das Marokko der Endzwanziger Jahre, wobei der titelgebende "Charme von Marokko" nicht zuletzt der unbekümmerte Charme seiner Erzählerin ist.