Sohn und Vater

Bis zu seinem Tod im vergangenen Jahr arbeitete der Schriftsteller und Filmemacher Thomas Harlan an seinem letzten Text mit dem Titel "Veit". Der an seinen Vater, den Filmemacher Veit Harlan ("Jud Süss", 1940) gerichtete Monolog, setzt sich mit der Rolle seines Vaters im NS-Regime und der Frage der persönlichen Schuld auseinander.
"Ich habe diesen Text nicht geschrieben, ich habe ihn diktiert. Insofern ist er mir fremd. Ich habe diesen Text nicht geschrieben. Ich habe ihn diktiert. Insofern ist er mir fremd."

Vier Tage lang - vom Bett aus diktiert, Frühjahr 2010, ein halbes Jahr vorm eigenen Tod - erinnert sich der Sohn an das Sterben des Vaters." Dies alles gibt es nicht mehr."

Der Sohn - Thomas Harlan. Der Vater - Veit Harlan, Regisseur von "Jud Süss". "Das ist eine Katastrophe, dass ich der Sohn meiner Eltern bin", hat Thomas Harlan einmal gesagt. Und dann die Liebe: "Die Liebe zu Veit hatte kaum Grenzen."

Das ist die Katastrophe. Geht etwas vom Vater auf den Sohn? Davon spricht der Sohn hier. Davon spricht die Stimme von Thomas Thieme:

"Hinzu zu den Schamwelten komme ich. Ich hatte wegen dir Deutschland verlassen. Ich hatte aus der Slowakei - wegen Dir! - Waffen für den jüdischen Kämpferbund Haganah nach Israel geschmuggelt. Ich hatte meine deutsche Sprache vergessen, ich hatte dich vergessen."

Bernhard Jugels Hörspiel-Adaption von Thomas Harlans Text "Veit" mit Thomas Thieme hat den Ton der Wehklage über die Katastrophe. Schmerzlich, leidenschaftlich. Sohn dieses Vaters, des Mannes, der Handlanger, der Mörder wurde mit "Jud Süss".

"Er war gutgläubig. Unschuldlos. Jetzt vergaß er sich selbst. Seine hundertfache Unschuld war noch immer keine Schuld."

Väter und Söhne. Auch, wenn man Hermann Kafka und Franz Kafka nicht vergleichen kann mit Veit Harlan und Thomas Harlan - andere Zeit, andere Katastrophe -, so darf man sie trotzdem parallel anschauen, diesen "Brief an den Vater" von Franz Kafka und den Text beziehungsweise das Hörspiel "Veit" von Thomas Harlan an den Vater. Jenseits der Unterschiedlichkeit der Zeiten, der Verantwortlichkeiten. Väter und Söhne. Ein Blick auf beide Texte, um etwas zu erahnen von diesem universalen, von diesem verfluchten, ambivalenten Verhältnis von Vater und Sohn, der Kampf um die Liebe, der Kampf gegen die Liebe oder der um den Hass. Was für einen großen Prosatext hat Thomas Harlan darüber geschrieben.

"Solange Vater, solange du es dir nicht eingestehen kannst, solange du dir nicht eingestanden hast, dass du die Verantwortung trägst für ein Unglück."

Thomas Harlans "Veit", diese von Thomas Thieme gesprochene, rhythmisierte Klage über den Vater Veit Harlan, den Steigbügelhalter des Holocaust. Und nun der Sohn. Thomas. Der Gequälte ob dieser Linien der Familie. Was bekommt der Sohn vom Vater mit, wenn der Sohn auch so, so ganz, ganz anders ist? Welche Qualen übernimmt er; welche Qualen will er freiwillig übernehmen?

"Vater, sträube dich nicht. Lass mich die Verantwortung für dich übernehmen." Damit endlich etwas erlöst wird. "Auch dann, wenn du keine Verantwortung hast." Oder haben willst. "Wenn du nichts hast als das, was du dein gutes Gewissen nennst."

"Veit", das Hörspiel, springt den Hörer an, greift ihn an mit der Stimme von Thomas Thieme, der die Qual herausschält aus dem Text des Sohnes über den Vater und über sich selbst, im Versuch, diesen geliebten, gehassten Vater sich aus der Seele schneiden zu wollen, es aber nicht zu können. Seine Schuld, die des Vaters, die der nicht nehmen konnte, wollte, auf sich zu nehmen, als ein Versuch, endlich etwas zu beenden.

"Ich habe deinen Film gemacht. Ich habe einen schrecklichen Film gemacht. Ich habe ‚Jud Süss’ gemacht."

Das Hörspiel hat Regisseur Bernhard Jugel mit angemessener und überzeugender Einfachheit inszeniert. Thomas Thieme spielt den Text als Klagelied; so wird der Text zum komplexen Gesang, ohne Instrumente, nur Stimme, trotzdem: Musik. Das, was auszuhalten ist daran, für uns, an dem Text, an der Musik, das ist die Tragik, dass dieser Vater vom Sohn auch geliebt wurde, und trotz all der Arbeit, die der Sohn unternahm, die Welt, in der der Vater den "Jud Süss" drehte, zu analysieren und ihr heftig etwas entgegen zu setzen.

Quälende Wiedergutmachung, die der Sohn unternahm. Thomas Harlans Recherchen über die Nazi-Kriegsverbrecher, seine Widerstandstätigkeit in Italien, Chile, Bolivien als "reisender deutscher Revolutionär", seine Mitgliedschaft im Revolutionsausschuss der "Nelkenrevolution" - 1975 in Portugal -, es reiste da wohl auch immer dieser "Vater-Dämon" mit. Väter und Söhne. Sie werden sich nicht los. 1964 ist Veit Harlan in Italien gestorben. Im Oktober 2010 ist der deutsche Autor und Regisseur Thomas Harlan gestorben. "Veit" ist ein großes Hörstück über Väter und Söhne.

"Ich habe dich geliebt. Lass mich dein Sohn sein. Dein Ältester. Lass mich. Dein Sohn."

Besprochen von Hartwig Tegeler

Thomas Harlan: Veit
Hörspiel von Bernhard Jugels
gelesen von Thomas Thieme
Intermedium Records, Erding 2011
1 CD, 14,90 Euro

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