Stephan Lessenich: „Die haltlose Gesellschaft. Solidarität und Verantwortung in Zeiten der Pandemie“, in: Forschung & Lehre 28 (2021), Nr. 12, S. 996–997. (Hier online verfügbar.)
Umgang mit Krisen
Die Hilfsbereitschaft für Geflüchtete aus der Ukraine ist beeindruckend - Solidarität aber sei etwas anderes, sagt Stephan Lessenich. © Getty Images / Digital Vision Vectors / Wenjin Chen
"Solidarität heißt Ursachen bekämpfen"
28:26 Minuten
Seit Beginn des Ukraine-Kriegs sieht man allerorts Hilfsbereitschaft. Aber ist das schon Solidarität? Soziologe Stephan Lessenich sagt, Solidarität verlangt mehr als Mitgefühl und Nothilfe. Sie ist gemeinsame Problemlösung.
„We stand with Ukraine“, „Solidarität mit der Ukraine“, gelb-blaue Farben überall – seit Beginn des russischen Angriffskriegs lässt sich eine große Anteilnahme mit der Ukraine beobachten, nicht zuletzt in den sozialen Medien. Erleben wir also eine Welle der Solidarität? So sehr die Zeichen des Mitgefühls ihre Berechtigung hätten, Solidarität sei das nicht, betont der Soziologe Stephan Lessenich: „Solidarität ist kein Gefühl, sondern vor allem eine konkrete Praxis, reales Tun.“
Solidarität braucht keine Ähnlichkeit
Und was ist mit konkreten Hilfestellungen, von Geldspenden bis zur Bereitstellung von Unterkünften für Geflüchtete? Der Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung sieht darin eher „eine Art organisierte Nächstenliebe“ als Solidarität im engeren Sinne. Denn die zeichnet sich für Lessenich gerade dadurch aus, dass man nicht etwas „für andere tut, aus Mitgefühl, sondern etwas mit anderen tut, um eine bestimmte Situation zu verändern – beispielsweise einen Krieg zu beenden“.
Noch etwas spricht aus seiner Sicht dagegen, hier den Solidaritätsbegriff zu verwenden: Während im Alltagsverständnis oft die Ähnlichkeit mit jemandem als Bedingung für solidarisches Handeln verstanden wird, zeichnet sich Solidarität für Lessenich gerade dadurch aus, dass sie von Sympathie oder Liebe unabhängig ist.
„Solidarität ist eine Herausforderung, gerade weil sie Unterschiede zu überbrücken versucht. Es geht nicht darum, sich gegenseitig gern zu haben oder als gleich zu erkennen, sondern zu erkennen: Man ist in eine Situation gestellt, in der man letztlich voneinander abhängig ist – wo die anderen in einer Situation sind, in die man auch geraten könnte, oder wo die anderen in einer Situation sind, an der man selbst nicht ganz unbeteiligt ist.“
Solidarität mit Geflüchteten hieße: Grenzen auf
Eine westliche Verwobenheit in prekäre Lebensumstände vieler Menschen sieht Lessenich in Ländern des globalen Südens. Geflüchtete oder migrierte Menschen aus afrikanischen oder arabischen Ländern würden oft als ‚uns unähnlich‘ beschrieben und deutlich mehr Ablehnung erfahren als Menschen, die derzeit aus er Ukraine kämen – obwohl europäische Staaten und unsere hiesige Lebensweise vielfach mitverantwortlich wären für die wirtschaftliche Situation vor Ort.
Gerade hier wäre Solidarität geboten – und das würde für Lessenich nicht nur Hilfe etwa beim Asylverfahren bedeuten, sondern „tatsächlich seine Grenzen zu öffnen und das Soziale zu entgrenzen, Personen hier aufzunehmen und idealerweise vom ersten Tag an als Mitbürgerinnen zu akzeptieren.“ Denn gerade darin sieht Lessenich das Wesen von Solidarität, dass sie „an Grenzen geht und Grenzen ausweitet“.
Ähnlichkeit ist für Lessenich auch deshalb kein Kriterium für solidarisches Handeln, weil Solidarität nicht einfach von sich aus vorhanden sei: „Das ist kein Gen, das wir in uns tragen.“ Das „Gefühl des Gemeinsamen“, das mit Solidarität einhergehe, entstehe erst im Handeln mit anderen, „dem Prozess des Füreinander und Miteinander“.
Solidarisch zu den Waffen greifen?
Aber was wäre dann wirkliche Solidarität mit der Ukraine, worin könnte das gemeinsame Handeln bestehen? Laut Lessenich darf solidarisches Handeln nicht dabei stehen bleiben, „Symptome zu kurieren“, worunter er etwa Hilfslieferungen fasst, sondern muss versuchen, „tatsächlich die Ursachen für das Leiden zu kappen“. In letzter Konsequenz, so Lessenich, hieße das in diesem Fall „gemeinsam zu den Waffen zu greifen“. „Solidarität würde dann wirklich heißen, gemeinsam einen politischen und in diesem Fall auch militärischen Kampf zu führen.“
Wenn man den Blick auf Probleme wie die Klimakrise oder die globale Armut weitet, hält Lessenich weniger militärisches als vielmehr ökonomisches und politisches Handeln für entscheidend. Dann ginge es darum, unsere ganze Lebensweise grundlegend zu ändern, unsere Art zu produzieren und zu konsumieren – denn die liege „an der Wurzel“ vieler heutiger Probleme, so Lessenich. „Solidarität geht eigentlich immer dahin, die strukturellen Mechanismen der Verursachung von Problemen zu beheben – und da ist natürlich die konkrete Form der Organisation unseres Wirtschaftens eine ganz zentrale Struktur.“
(ch)
Stephan Lessenich: „Doppelmoral hält besser. Die Politik mit der Solidarität in der Externalisierungsgesellschaft“, in: Berliner Journal für Soziologie 30 (2020), Nr. 1, S. 113–130. (Hier online verfügbar.)
Stephan Lessenich: Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem
Reclam, Ditzingen 2019
141 Seiten, 12 Euro