Geschichten über ein kafkaeskes System
Wenn am Sonntag in der Türkei gewählt wird, sitzt die Hoffnung der Opposition im Gefängnis. Der HDP-Politiker und Autor Selahattin Demirtaş ist seit 2016 inhaftiert. Aus seinen Texten lasen nun Schauspieler im Maxim Gorki Theater.
Selahattin Demirtaş hat viele Talente: den Pathos eines Politikers, der für seine Überzeugungen mit Gefängnis bezahlt und die feinsinnige Ironie eines Nasreddin Hoccas, des Till Eulenspiegels der türkischen Volksliteratur. Der Pathos seiner Grußadresse an die Teilnehmer einer Solidaritätsveranstaltung im Berliner Maxim Gorki Theater für den Inhaftierten klingt alles andere als hohl, sondern voller irrsinniger Hoffnung, mit der die Davids der Welt gegen die Goliaths der Welt aufbegehren. Nicht nur in der Türkei.
"Wir sind überzeugt, dass wir den Kampf, den wir gegen den Faschismus für Demokratie und Freiheit und Seite an Seite mit den Unterdrückten führen, gewinnen werden." Die Hausherrin Shermin Langhoff verliest Demirtass Botschaft, und dann hat der feinsinnige Schriftsteller Demirtas das Wort: Zwölf Kurzgeschichten hat er während seiner Untersuchungshaft in Edirne geschrieben. Geschichten aus der Welt der kleinen Leute und Geschichten über die wahnwitzige Gleichzeitigkeit komplett unterschiedlicher Lebenswelten, die in der Türkei manchmal nur ein Auto weiter nebeneinander existieren.
Ein Kuchen in Form eines Autos
In der ersten Geschichte des Abends sinniert eine Putzfrau im Sammeltaxi auf dem Weg zur Arbeit über die Autofahrer links und rechts im Verkehrsstau. Luxusmodell oder klappriger Gebrauchtwagen, Busfahrer - verheiratet oder ledig: Das sind ihre Kriterien, nach denen sie die anderen einordnet. "Kann er oder sie sich ein Auto leisten? Und wenn ja, was für eins?" Das fragt sie sich bei jedem, der ihr begegnet. Auch als sie später zufällig in eine Demonstration gerät, von der Polizei zusammengeschlagen wird , in der Notaufnahme, nach ihrer Verhaftung als vermeintliche Randaliererin, und vor dem Richter:
"Kurz danach stehe ich vor einem Richter. Er stellt mir die gleichen Fragen wie zuvor der Staatsanwalt. Ich gebe ihm die gleichen Antworten. Der Richter? - Ist verheiratet. Die Armut? - Hat er längst vergessen. Er fährt wohl einen Schwarzen. Mit Ledersitzen."
Eine Geschichte aus einem kafkaesken System, dessen Absurdidät Demirtas Heldin mit Humor erträgt, denn was bekommt die Putzfrau und Hobby-Auto-Soziologin zum Geburtstag von ihren Mithäftlingen gebacken: "Da haben mir die anderen einen Kuchen fabriziert in Form eines Autos."
Die Gleichzeitigkeit vom tristen Alltag des Gefängnisinsassen und dem Familienleben einer Spatzenfamilie, die auf der Gefängnismauer ihr Nest baut, erzählt der zweite Text des Abends. Und siehe da: Der Spatzenmann plustert sich genauso auf, wie seine Geschlechtsgenossen in der türkischen Männerwelt und als eine Abordnung der "Staatsvögel" die Räumung des "illegalen" Nestbaus verlangen, versteckt er sich hinter seiner mutigen Vogelfrau: "Da breitete das Vogelweibchen vor dem Nest die Flügel aus und sagte entschlossen: Sie kriegen weder mein Nest noch mein Junges. Nur über meine Leiche. Das Spatzenmännchen schickte hintendrein: Genau, nur über die Leiche meiner Frau!"
Der Horror hat noch gar nicht begonnen
Zur gleichen Zeit, während Schauspieler und Schauspielerinnen des Maxim Gorki Theaters Demirtaş' Texte lesen, schließen in den türkischen Konsulaten die Wahllokale für türkische Staatsbürger im Ausland. Was passiert hier zur gleichen Zeit in der deutschen Politik, während in der Türkei Demirtaş' HDP um Stimmen kämpft? Danach fragen in der anschließenden Diskussion der ehemalige Cumhurryiet–Chefredakteur Can Dündar und Cem Özdemir. "Herzlich wenig", stellt der Grünen-Politiker fest. Und dabei könnte die Regierung seiner Meinung nach durchaus Signale senden: "Man könnte beispielsweise jetzt sagen, für den Fall, dass die Opposition die Mehrheit bekommt, dass wir dann alles dafür tun werden, die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union beschleunigt aufzunehmen."
Wunschdenken oder reale Hoffnung? Dündar und Özdemir sind verhalten optimistisch und hoffen auf viele Stimmen für die Oppositionsparteien HDP und die kemalistische CHP. Noch ist nichts entschieden. Wie sagte es Selahattin Demirtaş in einer Videobotschaft aus dem Gefängnis: "Was wir gerade erleben ist nur der 'Trailer' zu einem Ein-Mann-Regime. Der gruselige Teil des Horrorfilms hat noch nicht mal begonnen." Aber: "Ich bin überzeugt: Wir werden unser Land vom Rande des Abgrunds zurückholen."
Ob der Horrorfilm in der Türkei demnächst beginnt? - Es liegt an den Wählern und an uns.