In der Reihe "Leben in Ausnahmesituationen" führen wir in dieser Woche Gespräche über den Ausbruch des Vulkans Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawadie 1815, die Spanische Grippe 1918, die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, den Finanzcrash von 2008, den Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull 2010 – und wir blicken nach Mogadischu, wo islamistische Milizen seit Jahrzehnten die einheimische Bevölkerung terrorisieren.
In Mogadischu lebt man immer mit der Angst
08:22 Minuten
In Somalias Hauptstadt sind zwar die Restaurants geöffnet, aber die Gäste müssen stets einen Anschlag von Terroristen befürchten. Der Ausnahmezustand ist seit Jahren das Lebensgefühl für die Bewohner von Mogadischu, sagt die Reporterin Bettina Rühl.
Dieter Kassel: Alle Ausnahmezustände, um die es in unserer Reihe "Leben im Ausnahmezustand" in dieser Woche schon ging, waren irgendwann beendet. Der in Mogadischu, der Hauptstadt Somalias, ist es nicht. Dort leben die Menschen ständig mit der Bedrohung durch die islamistische Terrormiliz Al-Shabaab. Das bedeutet konkret, sie leben mit der Angst – jeden Tag mit der Angst, Opfer eines Terroranschlags zu werden.
Bettina Rühl ist Weltreporterin mit Hauptstandort Kenia und berichtet seit Jahren regelmäßig auch aus und über Somalia, wir erreichen sie jetzt in Nairobi. Wie habe ich mir das vorzustellen, wie lebt man in einer Stadt wie Mogadischu mit der ständigen Angst, und das ja schon seit Jahren und Jahrzehnten?
Rühl: Die Menschen haben sich in gewisser Weise daran gewöhnt – was zum einen heißt, ihnen ist es natürlich sehr bewusst. Ich habe mit vielen gesprochen, die sagen: Man geht morgens aus dem Haus mit dem Bewusstsein, es ist nicht sicher, ob man abends nach Hause kommt. Das gilt für uns in Deutschland natürlich in gewisser Weise auch, man kann immer einen Verkehrsunfall haben. Aber dieses Gefühl, man verabschiedet sich morgens von der Familie immer so ein bisschen mit: "Wer weiß, ob wir uns wiedersehen" – das ist, glaube ich, schon etwas ganz Besonderes.
Gleichzeitig versuchen viele, trotzdem einen Alltag zu leben. Der muslimische Feiertag der Woche ist ja der Freitag, nicht wie bei uns der Sonntag. Sie gehen also mit ihren Kindern freitags in die Pizzeria, weil die Kinder das gerne mögen, gehen an den Strand und so weiter, versuchen also, Normalität zu leben. Aber es passiert eben tatsächlich auch immer wieder: Gerade diese Restaurants sind ein Ziel von Terroranschlägen, weil man da eben so viele Menschen trifft und das dann auch Schlagzeilen in den Medien bringt. Immer wieder passiert es, dass mitten in so einen Versuch des Alltags hinein buchstäblich die Bombe explodiert.
Auf sich allein gestellt
Kassel: Die Zentralregierung von Somalia hat ja im Grunde genommen nur die Stadt selber und ein relativ kleines Gebiet drum herum wirklich unter Kontrolle. Es herrscht auch Anarchie und Recht- und Regellosigkeit. Was bedeutet das für Mogadischu und für die Maßnahmen gegen diesen Terror? Ist man da quasi als normaler Mensch komplett auf sich selbst gestellt?
Rühl: Ja, das muss man so sagen. Wenn man vom Flughafen kommt und in die Stadt fährt, dann kommt man erst mal durch einen Bereich, der wegen der Nähe zum Flughafen … im Evakuierungsfall hat man es nicht so weit, da sitzen alle die, die etwas mehr Geld haben. Das sind die internationalen Organisationen, das sind auch reichere Privatleute und so weiter. Das sind Anlagen, die mit zweifachen oder mehr Mauern gesichert sind, und oben auf diesen Mauern ist noch mal Nato-Draht. Die Idee von diesen zweifachen Mauern ist, wenn ein Lkw oder ein Pkw voller Sprengstoff explodiert, dann hat man halt möglichst viel Abstand zu dem Gebäude, wo die Menschen sind.
Binnenvertriebene leben ohne jeden Schutz
Je weiter man in die Stadt kommt und je ärmer die Leute werden, desto weniger können sie sich natürlich diese Befestigungsanlagen leisten, sie leben dann in einfachen Häusern. Es gibt aber auch viele Binnenvertriebene, die leben in irgendwelchen selbst gebastelten Hütten oder Einrichtungen, die gar keinen Schutz bieten. Die Regierung kann, außer dass es Straßensperren gibt, wo Fahrzeuge auf Sprengstoff untersucht werden, im Grunde nichts tun. Und wenn ein Lkw voller Sprengstoff detoniert – das ist verschiedentlich ja auch passiert –, dann gibt es Hunderte Tote. Der schlimmste Anschlag vor zwei Jahren, da sind 800 Menschen gestorben. Das sind Bilder der Verwüstung, die in einen solchen Alltag hineinplatzen.
Kleinere Anschläge sind relativ häufig – auch wenn ich dort bin zum Recherchieren, dann hört man es bisweilen irgendwie knallen in der Ferne. Dann fragt man sich, wie groß war das jetzt? So ein bisschen hört man es, meint man am Geräusch zu hören, ob es jetzt größer oder kleiner war. Dann überlegt man sich: Was ist jetzt die Strategie, also kommt da jetzt gleich ein Anschlag hinterher, das ist öfter so, welchen Weg nimmt man, um möglichst nicht in einen Anschlag hineinzugeraten?
Kassel: Umso erstaunlicher ist es, dass Sie bei einer Ihrer letzten Recherchen doch einen Mann getroffen haben, einen Bürgermeister, der war schon weg, der hat in London gelebt, ein Somali, und ist höchst freiwillig wieder zurückgekehrt in dieses Land, zu diesem Umständen. Hat er Ihnen erklären können, warum?
Rühl: Es gibt viele Menschen, die tatsächlich aus dem sicheren westlichen Ausland zurückkehren. Es klingt immer gleich, also auch dieser Mann, der ursprünglich Journalist war, als Journalist zurückkam und dann Bürgermeister wurde. Der sagte mehr oder weniger: Ich bin diesem Land noch etwas schuldig, ich bin hier groß geworden, als es noch ein halbwegs funktionierender Staat war. Die Bürger haben Steuern bezahlt, von diesen Steuern bin ich in die Schule gegangen. Er ist Anfang der 90er-Jahre geflohen, als der Bürgerkrieg anfing. Trotzdem hat er das Gefühl, noch zurückgeben zu müssen und zu sagen: Die anderen, die Weißen kommen nicht, jetzt ist es an uns, die wir bessergestellt sind, die wir in diesem Fall in Großbritannien etwas gelernt haben, Geld verdient haben, zurückzugeben.
Das Land nicht den Islamisten überlassen
Er hat in einer Situation dort gelebt, auch als Journalist hoch bedroht, im Grunde auch in so einer Zelle – mich erinnert das jetzt an diese Corona-Kontaktsperren. Seine Kinder, seine Familie hat er in London gelassen, um sie nicht auch dieser Gefahr auszusetzen, hat dann auch über Jahre nur über Videofilmchen mit seinen Kindern Kontakt. Er hat es freiwillig getan und nimmt all dieses auf sich, weil er sagt: Wir müssen da durch, wir müssen dieses Land aufbauen, und wir dürfen das Terrain nicht den Islamisten überlassen. Leute wie wir müssen zurück, müssen uns dem aussetzen, müssen etwas tun.
Kassel: Zum Schluss, weil Sie selber das Thema Corona erwähnt haben: Eine Stadt wie Mogadischu, ein Land wie Somalia, in dieser Situation – Anarchie, Gewalt, ständige Gefahr –, soweit Sie das wissen, wie kann man denn da jetzt überhaupt auf Corona reagieren?
Rühl: Im Grunde überhaupt nicht. Das ist jetzt sehr zugespitzt. Es gibt auch in diesem Fall eine große Hilfsbereitschaft, viele Medizinstudenten zum Beispiel stehen bereit – noch sind die offiziellen Fallzahlen sehr niedrig. Tatsache ist aber auch, dass der Staat im Grunde nicht existent ist. Das ganze Gesundheitssystem ist privatisiert, das kostet Geld. Das haben die Menschen nicht. Es gibt geschätzt 2,6 Millionen Binnenvertriebene, die haben gar nichts, und die sind schon überhaupt im normalen Leben in der Situation, dass sie entscheiden müssen, für wen kann ich mir überhaupt leisten, irgendeine Art von medizinischer Behandlung zu bezahlen.
Was bei uns ja jetzt als Triage auch bekannt geworden ist, das Schreckgespenst, das versuchen wir unbedingt zu vermeiden – für die Menschen dort ist es Alltag, dass sie sagen, wenn ich jetzt ein Familienmitglied behandeln kann, dann vermutlich nicht den im Grunde sehr geliebten älteren Menschen. Das haben die immer schon, und das wird natürlich mit Corona noch schlimmer werden. Im Grunde, dieser Ausnahmezustand, da merkt man es dann auch wieder, ist einfach Teil des Alltags.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.