München träumt von der Wiesn mit Auslauf
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Weil das Oktoberfest in diesem Jahr abgesagt wurde, droht der Münchner Wirtschaft ein Milliarden-Umsatzloch. Grüne, CSU und SPD hoffen nun auf ein „Sommerfest“, das in der ganzen Stadt gefeiert werden kann, verteilt auf viele Plätze.
Der Knock-Out der Münchner Volksseele kam ziemlich unvermittelt, ohne große Vorabmeldung. Man kann auch sagen, er kam ziemlich kalt rein. Mit katerverdächtiger Stimme und Grabesmiene stellt sich Markus Söder zusammen mit dem Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter am Morgen des 21. April vor die versammelte Münchner Weltpresse. Und die ahnt, was jetzt kommt.
Schlechte Nachricht als Chefsache
Denn wenn ein bayerischer Ministerpräsident Söder auf dem Höhepunkt der Pandemie in aller Eile plötzlich über etwas Schwieriges reden will, also quasi etwas noch Schwierigeres als die Jahrhundertkrise selbst, dann ist wirklich mit dem Schlimmsten zu rechnen.
"Wir beide sind, glaube ich, das kann man sagen – der Bürgermeister per se – die größten Fans des Oktoberfestes, es ist das größte und schönste Volksfest der Welt. Wir beide sind am Anfang davon betroffen – er würde anzapfen, ich bekäme den ersten Schluck."
Betroffen – das sind jetzt alle. Denn in den folgenden Momenten verkündet Oberbürgermeister Dieter Reiter das lang Befürchtete – aber bisher Unaussprechliche.
"Da schlagen schon mehrere Herzen in meiner Brust, sagen zu müssen: Das Oktoberfest 2020 wird nicht stattfinden können."
Die Stadträtin verdrückt ein Tränchen
München ohne Oktoberfest - ein Schlag in die nüchterne Magengrube. Oder, mit Anja Berger gesprochen:
"Also, ich habe da schon ein paar Tränchen verdrückt."
Die Grünen-Politikerin ist Münchens frisch gekürte Wiesn-Stadträtin – das erste Mal eine Frau, das erste Mal eine Grüne für diesen Job.
"Natürlich fehlt auch ein ganz großes Stück Lebensgefühl in der Stadt, wenn die Wiesn nicht stattfindet. Für viele gehört es einfach dazu. Und es ist einfach zwei Wochen lang eine ganz besondere Stimmung in der Stadt, wenn man die Wiesn liebt."
Wozu man als Wiesn-Stadträtin selbstverständlich verpflichtet ist. Auch als Grüne.
"Und man geht vielleicht, man schwebt so ein bissl höher in den zwei Wochen, wenn die Wiesn ist. Ja, das fällt weg, und ich glaube, das fanden viele sehr, sehr schade."
Nun ja, böse Zungen behaupten ja, man schwebt nicht höher, sondern torkelt tiefer in den zwei Wochen, in denen sich sechs Millionen Besucherinnen und Besucher zu astronomischen Bierpreisen in einen kollektiven Rausch hineinstürzen – und dabei den Leuten, die hier wohnen, manches übel riechende Souvenir in U-Bahnen und Hinterhöfen hinterlassen.
Mehr als eine Milliarde Euro Verlust
Aber klar - wie OB Dieter Reiter erläutert: "Wir haben Untersuchungen, dass so zwischen 1,2 und 1,3 Milliarden Umwegrentabilität in diesen sechzehn Tagen entsteht. Logischerweise für Hotels, für die Gastronomie außerhalb des Oktoberfestes, bis hin zum Taxifahrer – alle werden schmerzlich das Oktoberfest im Geldbeutel vermissen."
Schad is scho – um die schöne Umwegrentabilität. Doch, im Ernst: Nicht nur SUV-fahrende Hotel-Magnaten und bierbäuchige Wiesn-Wirte trifft die Absage.
"Buden und Fahrgeschäfte, die haben dieses Jahr ja einen Riesen-Verdienstausfall, haben überhaupt keine Einnahmen, weil ja alle Feste abgesagt worden sind. Also, die Frage, ob die nächstes Jahr, wenn es dann wieder geht, wieder da sind, ist wirklich berechtigt."
Deshalb hat Anja Berger zusammen mit Kolleginnen und Kollegen von der SPD und der CSU einen Antrag gestellt: Sie wollen ein Ersatz-Oktoberfest im Sommer, das auf keinen Fall "Ersatzoktoberfest" heißen soll. "Sommer in der Stadt" heißt ihr Konzept. Und der zuständige Referent für Arbeit und Wirtschaft Clemens Baumgärtner arbeitet schon daran.
"Wir haben großen Wert darauf gelegt, dass es die Wiesn entweder ganz oder gar nicht gibt. Das, was wir mit dem Konzept 'Sommer in der Stadt' meinen, ist etwas ganz anderes. Wir wollen keine große Frequenz auf kleiner Fläche haben, sondern wir wollen genau umgekehrt eine gute Frequenz auf großer Fläche haben, damit alle die Corona-Regeln, die Abstandsregularien und ähnliches tatsächlich auch eingehalten werden."
"Sommerfest" in der ganzen Stadt
Will heißen: Statt nur auf der Theresienwiese will München eine Kirmes auf möglichst vielen Plätzen – ein Sommerfest über die gesamte Stadt verteilt – mit viel Abstand, ohne Bierzelte und damit ohne Ischgl-Effekt. Die Idee ist für eine traditionsverhaftete Stadt wie München einigermaßen radikal, ja visionär. Aber ganz neu ist sie nicht. Denn ein Team um den Filmer Daniel Silber hatte schon 2017 die Utopie vom Oktoberfest in der Stadt in einer kleinen Video-Montage verwirklicht, die bis heute auf Youtube zu sehen ist.
Silber und sein Team platzieren darin Kirmesbuden, Achterbahnen und Kettenkarussel einfach in die Fußgängerzonen und Gässchen der Altstadt.
"Also, wir fangen mit sehr ruhigen Bildern an. Die Wilde Maus fährt in der Innenstadt rum. Du fragst dich, was ist los, was sehe ich hier? Und auf einmal nimmt der Film Fahrt auf – und zwar im buchstäblichen Sinn. Dann fangen die wilden Fahrgeschäfte an, Achterbahnen und – das ist eine meiner Lieblingseinstellungen: Die Münchner Rutschen neben der Frauenkirche. Hier sehen wir den brüllenden Münchner Löwenbräu-Löwen einfach auf einem Hausdach sitzen."
Fahrgeschäfte auf allen Plätzen
Mit seiner Wiesn-Vision habe er vor vier Jahren eigentlich nur ein Bild dafür schaffen wollen, wie selbstverständlich das Oktoberfest mit der Stadt verwachsen sei, sagt Daniel Silber – eine kleine, subtile Gedankenspielerei. Dass diese Filmmontage nun so gut zu den Plänen des Stadtrats passt wie Hammer auf Hau den Lukas, soweit reichte sein Traum bisher nicht.
"Stell dir mal vor, wie cool das wäre, so zu träumen, wie du dir das als Kind vorstellst: Wie cool es wäre, wenn jetzt hier ein Fünfer-Looping wäre. Wie cool das wäre – du gehst einfach durch die Stadt, hättest Lust, einfach mit dem Ikarus hochzufahren, oder Kettenkarussell. Und könntest es einfach jederzeit machen. Das wäre eine unglaubliche Aufwertung."
Ja. Wie cool wäre das. Bleibt zu hoffen, dass Lärm-, Emissions- und Infektionsschutz, die Toleranz der Anwohnerschaft und der Mut der Schausteller möglichst viel übriglassen von der Wiesn in der Stadt, die nicht Wiesn heißt – und schon Anfang Juli beginnen soll.
Mitte Juni will das zuständige Referat dem Stadtrat den entsprechenden Beschluss zur Abstimmung vorlegen. Die Vorlage wird mit großer Sicherheit angenommen werden. Denn derzeit wollen den "Sommer in der Stadt" alle Parteien. Mitte Juli sollen dann peu à peu Buden und Fahrgeschäfte auf den Plätzen Münchens öffnen.