Sommermärchen und nationales Interesse

Von Alan Posener |
So, jetzt ist es soweit. Ich hole die schwarz-rot-goldene Fahne aus dem Keller und klemme sie wieder ans Fenster meines Ford Focus. Vier Wochen FIFA Fußball-Weltmeisterschaft sind angesagt, und das verpflichtet auch zu fröhlichem, entspanntem Patriotismus. Bleibt der aus, wird das Feuilleton eine deutsche Sinnkrise verkünden. Bloß das nicht!
Allerdings hole ich auch das Kreuz von Sankt Georg, rot auf weißem Grund, aus dem Keller und stecke es ans andere Fenster, denn ich bin bekennender Doppelpässler, und mein Herz gehört mindestens zur Hälfte den englischen Kickern, die seit 1966 - der Ball war drin - immer wieder heroisch scheitern.

Zwei Fahnen also. Hier die Fahne einer Nation, dort die Fahne von – was eigentlich? England ist keine Nation, es hat nicht einmal, wie Schottland oder Nordirland, ein eigenes Parlament. England ist eine Idee, mehr nicht. Die einzige Nicht-Nation, die an der Weltmeisterschaft teilnehmen darf. Und damit wegweisend für ein postnationales Europa. Dabei heißt es immer, die Briten seien europaskeptisch.

Lange geisterte die Mär unter Deutschlands Konservativen umher, das angeblich gebrochene Verhältnis der Deutschen zur Nation sei schuld an allerlei Unbill. Deshalb wäre es an der Zeit, endlich als selbstbewusste Nation aus dem Schatten des Dritten Reichs hervorzutreten und mit der Selbstkasteiung aufzuhören. Patriotische Manager würden gewiss das Gemeinwohl der Nation vor den Profit stellen, patriotische Arbeiter den Gürtel enger schnallen, patriotische Frauen endlich mehr künftige Rentenzahler gebären. Diesen Konservativen schien die letzte Weltmeisterschaft eine neue, bessere Ära anzukündigen.

Blödsinn natürlich, denn ein Blick auf die angelsächsischen Länder, deren Patriotismus angeblich ungebrochen ist, hätte genügt, um dort jede Menge raffgierige Manager und streikende Arbeiter zu erkennen. Und dass die Frauen dort gebärfreudiger sind, dürfte eher nicht an ihrem Patriotismus liegen.

So hat auch der neue, fröhlich-entspannte Patriotismus der Deutschen nichts gebracht und konnte nichts bringen. Soeben ist uns zum Beispiel ein konservativer Bundespräsident abhanden gekommen, weil er keine Lust mehr verspürte, Deutschland zu repräsentieren. Pflichtgefühl, Verantwortung vor der Nation? Nix da. Das ist was für Jogi Löw.

Der nächste Bundespräsident wird sein Amt allein der Tatsache verdanken, dass ihn die Kanzlerin dort haben will, wo er nicht gegen sie intrigieren kann. Suchte man den besten Mann für den Job? Quatsch. Es geht nicht um einen Torhüter, und man ist ja nicht Bundestrainer.

Hinter uns liegen Enthüllungen über Stützen der Gesellschaft, die ganz unpatriotisch Steuern hinterzogen und Schurkenstaaten wie Liechtenstein und die Schweiz unterstützt haben. Vor uns liegen Streiks derjenigen, die meinen, Gürtel enger schnallen sei allenfalls was für faule Griechen, aber nicht für fleißige Deutsche. Kurz und gut: Erstens hat Fußballbegeisterung mit Patriotismus nichts zu tun, und zweitens hindert der Patriotismus keinen Menschen, am allerwenigsten einen Konservativen, am gesunden Egoismus. Und drittens ist das gut so.

Der Egoismus ist nämlich ein verlässliches Gefühl, auf das man zählen kann. Der Idealismus aber, ob patriotisch oder religiös, ökologisch oder sozialistisch eingefärbt, ist schwer durchzuhalten und führt in 99 Prozent der Fälle zu Doppelmoral und Bigotterie.

Ich werde also in den nächsten Tagen und Wochen für England und Deutschland zittern und bangen, und zwar aus ganz egoistischen Gründen: Weil eine WM mehr Spaß macht, wenn man mit einer Mannschaft - oder mit zweien oder dreien – richtig mitgeht. Patriotisch bin ich übrigens auch. Und auch das aus ganz egoistischen Gründen: Weil es mir besser geht, wenn es dem Land, in dem ich lebe, gut geht.

Aber was bedeutet das? Geht es Deutschland besser, wenn wir in Afghanistan Krieg führen oder wenn wir abziehen? Wenn wir aus Europa eine Solidarunion machen oder die Südländer am ausgestreckten Arm verrecken lassen? Wenn wir bei den Armen sparen oder die Reichen besteuern? Wenn Wulff Bundespräsident wird oder Gauck?

Das überlegen wir uns nach dem Endspiel. Jetzt machen wir erstmal die Fahnen ans Auto.


Alan Posener, 1949 in London geboren, aufgewachsen in London, Kuala Lumpur und Berlin, studierte Germanistik und Anglistik an der FU Berlin und der Ruhr-Universität Bochum. Er arbeitete anschließend im Schuldienst, dann als freier Autor und Übersetzer. Seit 1999 ist er tätig für die "Welt" sowie die "Welt am Sonntag", u. a. als Kommentarchef und Korrespondent. Posener publizierte neben Schullektüren u. a. Rowohlt-Monographien über John Lennon, John F. Kennedy, Elvis Presley, William Shakespeare und Franklin D. Roosevelt, die "Duographie" Roosevelt-Stalin und den "Paare"-Band über John F. und Jacqueline Kennedy. Zuletzt erschien "Benedikts Kreuzzug. Der Angriff des Vatikans auf die moderne Gesellschaft".
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