"Sommernacht, jetzt"

Von Helmut Böttiger |
Der Erzählband "Sommerhaus, später" von Judith Hermann aus dem Jahr 1998 war einer der spektakulärsten Bucherfolge der 90er-Jahre. Hier vernahm man zum ersten Mal die Stimme der Generation, die in die neue Epoche nach dem Fall der Mauer 1989 hineinwuchs - eine charakteristische Stimmung zwischen Sehnsucht und Melancholie und Überforderung. Die damals aktuelle Popmusik spielte dabei eine große Rolle.
Judith Hermann schuf mit ihrem Buch ein Archiv für die Atmosphäre jener Jahre. "Irgendwo sang Tom Waits", heißt es einmal, irgendwo gibt es immer einen Song, der die jeweilige Gefühlsfarbe trifft und den man im Auto in den Kassettenrecorder einlegen kann: "Wir hörten Massive Attack und rauchten und fuhren die Frankfurter Allee wohl eine Stunde lang rauf und runter", und es gibt "für jede Strecke eine andere Musik, Ween für die Landstraßen, David Bowie für die Innenstadt, Bach für die Alleen, Trans-AM nur für die Autobahn". Es steht immer etwas zur Verfügung. Das Leben ist ausgefüllt mit allen Möglichkeiten des Hedonismus und Eskapismus, doch das Innere hält dem nicht stand. Heute erkennt man das Besondere der damaligen Situation genauer, und der Soundtrack der 90er-Jahre bekommt eine historische Qualität. "Sommerhaus, später" hat das Bild der Autorin Judith Hermann, die sich mit ihren beiden folgenden Büchern weiterentwickelt hat, geprägt: unwiederholbare Augenblicke, die Nächte in der "Volksbühne" am Rosa-Luxemburg-Platz, das Versprechen Berlins und des Ostens, als alles noch offen schien.

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