Sommerserie "Mit Büchern reisen"

Der wahre Sinn von Sainte Victoire

Gewitterwolken über dem Étang de Berre, gesehen vom Gipfel der Sainte-Victoire in der Provence
Gewitterwolken über dem Étang de Berre, gesehen vom Gipfel der Sainte-Victoire in der Provence © Stefan Weidner
Von Stefan Weidner |
Der Autor und Übersetzer Stefan Weidner hat Klassiker der Reiseliteratur wiedergelesen - und sie mit eigenen Reiseerfahrungen in Verbindung gebracht. Bewaffnet mit Peter Handkes "Die Lehre der Sainte-Victoire" versucht er hinter das Geheimnis des Naturwunders zu kommen.
"Ja, als ich dann an einem Julitag auf der Route Paul Cézanne in östlicher Richtung ging, wurde es, kaum daß ich aus Aix heraus war, mein Gedankenspiel, einer unbestimmten Mehrzahl Reiseempfehlungen zu geben. Auch der Gedanke, den Berg in Natur zu sehen, war lange Zeit bloßes Spiel geblieben. War es nicht eine fixe Idee, daß ein Ding, das einmal der geliebte Gegenstand eines Malers gewesen war, schon für sich etwas Besonderes darstellte?"
(Zitat aus: Peter Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980)
Wegen der Bilder von Cezanne oder Peter Handkes "Die Lehre der Sainte-Victoire" in die Provence zu fahren, wäre mir seltsam erschienen, wie eine bildungsbürgerliche Pilgerfahrt. Doch als ich dann dort bin, gibt es für mich keinen dringenderen Wunsch, als die Sainte-Victoire mit eigenen Augen zu sehen und herauszufinden, was der legendäre Berg in mir auslöst. Erste Enttäuschung: Die Sainte-Victoire zeigt sich nicht, jedenfalls nicht wie auf den Gemälden von Cezanne. Und weil wir nicht wissen, was wir sonst mit unserer Lust auf den Berg machen sollen, beschließen wir, ihn zu besteigen.
Blick ins Wellenland der Provence
Nachmittags, nach einem heftigen Gewitter, das die Luft klar gespült und die Touristen abgeschreckt hat, ziehen wir los, blicken mit jeder Biegung des Wegs tiefer in das Wellenland der Provence, während uns oben am Gipfel schon die Kapelle der einst hier hausenden Mönche erwartet. Auf einmal hetzen, als wäre das ihre Zeit wie bei Mücken, die Bergläufer an uns vorbei. Ziegengleich springen sie in leuchtenden Joggingschuhen über die felsigen Pfade, einer nach dem anderen, hinauf und wieder hinunter, als wollten sie dem Berg seine Aura austreiben und uns Bildungspilgern zeigen, was der wahre Sinn dieses Kalkmassivs sei.
Die Skizze «La montagne Sainte Victoire» (1900-1902, Aquarell auf Graphitstift) des französischen Künstlers Paul Cezanne (1839-1906) gehört zu den Exponaten der Ausstellung «Archive des Traums» im Pariser Musée de l'Orangerie. 
Die Skizze "La montagne Sainte Victoire" des französischen Künstlers Paul Cezanne © dpa / picture alliance / RMN-Grand Palais (musée d'Orsay) / Tony Querrec
Am Gipfelkreuz ist der Blick frei nach Süden, gen Meer. Unter uns kreisen die Gleitschirmsegler, buntgefiederte Riesenvögel. Neue Gewitterwolken ziehen sich dunkel im Westen zusammen, liefern sich ein blutiges Gefecht mit der sinkenden Sonne, die in einem letzten Akt des Widerstands, orangen vor Zorn, unter den Wolken erscheint und das Salzwassermoor beim Flughafen Aix-Marseille, den Étang de Berre, in einen gleißenden Spiegel verwandelt. Als wir uns umdrehen nach Nordosten, schweben dort weiß, als seien auch das nur Wolken, die zackigen Gipfel der Alpen. Wie unvorstellbar weit wir auf einmal sehen! Als hätte uns der Berg zu den Brandwächtern dieser Zeit erkoren, und nun müssten wir alles ringsum im Blick haben und jede Feuersbrunst melden. Aber der Erdkreis bleibt unerschüttert. Es gab kein Gipfelerlebnis, schreibt Peter Handke.
Stefan Weidner, Jahrgang 1967, arbeitet als Autor, Übersetzer und Literaturkritiker. Er hat zahlreiche Lyriker aus dem Arabischen übersetzt, darunter Adonis und Mahmud Darwisch - und er reist viel.

Programmtipp: Die Reihe Mit Büchern reisen wird in den kommenden zwei Wochen in der Lesart (10 bis 11 Uhr) fortgesetzt.

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