Programmtipp: Die Reihe Mit Büchern reisen wird in loser Folge in der Lesart (Montag - Freitag ab 10.07 Uhr, Samstag ab 11.05 Uhr) fortgesetzt.
Jüdische Schriftzeichen unter dem Putz
Der Autor und Übersetzer Stefan Weidner hat Klassiker der Reiseliteratur wiedergelesen - und sie mit eigenen Reiseerfahrungen in Verbindung gebracht. Alfred Döblins "Reise in Polen" inspiriert ihn zu einer Suche nach jüdischen Spuren.
"Auf dem Markt stehe ich. Bosniakstraße. Juden gehen überall herum, europäisch gekleidete und fremdartiger Schlag, in schwarzem Kittel mit kollossalen geringelten Schläfenlocken. So leben die drei Völker in Lemberg zusammen, nebeneinander: Polen, die Stadt beherrschend, aufmerksam, lebendig, die Besitzer, Juden, vielspältig, versunken und abweisend, oder mißtrauisch, sich wehrend, rege, zum Leben erwacht, Ukrainer, unsichtbar, lautlos hier und dort, zurückhaltend, jähzornig, gefährlich, trauernd, die Spannung von Verschwörern und Aufrührern in sich."
(Zitat aus: Alfred Döblin, "Reise in Polen", dtv, München 2000)
90 Jahre nach Döblins Polenreise mache ich mir keine Illusionen: Jüdische Spuren würde ich hier nicht finden. Die Juden wurden von den Deutschen ermordet, die Polen von den Sowjets vertrieben, und heute ist Lemberg eine rein ukrainische Stadt: Lviv. Eins jedoch hatte ich nicht bedacht: Lemberg ist im Krieg kaum zerstört worden. Noch heute würde sich Döblin hier zurechtfinden. Also wage ich den Sprung durch die Zeit und betrete mit seinem Bericht in der Hand den einstigen jüdischen Stadtteil hinter dem Theater.
Döblin suchte den großen Tempel. Ich finde seltsame Freiflächen, Wiesen zwischen den Häusern, im hohen Gras der Gedenkstein: Hier standen Synagogen, die Nazis haben sie zerstört. An vielen Häusern blättert der Putz ab und darunter, zu meinem Erstaunen, werden jüdische Schriftzeichen sichtbar, schüchtern und fragmentarisch. Ich gehe um zwei Ecken und auf einmal sehe ich, nahtlos in die Häuserzeile integriert, eine kleine Halle, die Fenster schmal und hoch wie bei einer gotischen Kapelle, nur schmucklos: Das ist eine Synagoge, das Gebäude dient als Abstellhalle.
Zerbrochene Grabsteine mit hebräischen Buchstaben
Ich laufe einen Hügel hoch, da windet sich der größte Markt der Stadt hinauf. Vor dem Krieg war hier der jüdische Friedhof. Daneben, erkennbar an seiner Kuppel, das ehemalige jüdische Spital, heute Geburtsklinik. Durch die Rostflecken der einst hier angeschraubten polnischen Buchstaben entziffere ich die Worte: Szpital israelicki. Beim Schlendern durchs ungemähte Gras des Spitalgartens stolpere ich, es ist wie im Traum, über zerbrochene Grabsteine mit hebräischen Lettern.
In der Innenstadt dann an einer Hauswand eine weitere alte Beschriftung, liebevoll nachgemalt, wie gestern erst aufgetragen. Neben dem polnischen "Mleczarnia" und dem deutschen "Milchhalle" stehen hebräische Zeichen. Ich kratze zusammen, was ich noch weiß seit meinen Besuchen in Israel, und wie ein Erstklässler buchstabiere ich die Wörter laut vor mich hin: "Milchhalle", "Kaffee", "Thee". In Lemberg im Jahr 2014 habe ich an einer Hauswand Jiddisch gelesen.
Stefan Weidner, Jahrgang 1967, arbeitet als Autor, Übersetzer und Literaturkritiker. Er hat zahlreiche Lyriker aus dem Arabischen übersetzt, darunter Adonis und Mahmud Darwisch - und er reist viel.