Programmtipp: Die Reihe Mit Büchern reisen wird in loser Folge in der Lesart (Montag - Freitag ab 10.07 Uhr, Samstag ab 11.05 Uhr) fortgesetzt.
Kamelköpfe wie Trophäen
Der Autor und Übersetzer Stefan Weidner hat Klassiker der Reiseliteratur wiedergelesen - und sie mit eigenen Reiseerfahrungen kombiniert. Aus Elias Canettis "Die Stimmen von Marrakesch" verfolgte ihn eine Frage: Wie schmeckt Kamelfleisch?
"Ich muß Dir den Kamelmarkt zeigen", sagte mein Freund. (...) Einige Tage später kamen wir an der Stadtmauer vorbei. Da sah ich, in ihrem Schatten, eine große Karawane von Kamelen. Wir betrachteten sie eingehend, und siehe, sie hatten Gesichter. Die Karawane kam von Guilimin und war seit fünfundzwanzig Tagen unterwegs.
"Und wohin geht es weiter?"
"Und wohin geht es weiter?"
"Es geht nicht weiter. Sie werden hier verkauft, zum Schlachten."
"Wird denn hier viel Kamelfleisch gegessen?" Ich suchte meine Betroffenheit hinter sachlichen Fragen zu verbergen.
"Sehr viel!"
"Wie schmeckt es denn?"
"Wird denn hier viel Kamelfleisch gegessen?" Ich suchte meine Betroffenheit hinter sachlichen Fragen zu verbergen.
"Sehr viel!"
"Wie schmeckt es denn?"
(Zitat aus: Elias Canetti: "Die Stimmen von Marrakesch", S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1980)
Das habe ich mich gefragt, seit ich die Stelle gelesen hatte: Wie schmeckt Kamelfleisch? Offenbar war es beliebt, als Canetti vor 60 Jahren in Marokko weilte. Heute bekommt man es selten, Touristen gar nicht. Es ist mein letzter Tag in Casablanca, ein Sonntag, und ich besuche das 'Habous' genannte Stadtviertel hinter dem Königspalast. Es hat einen Basar und gilt als Attraktion für Touristen. Da ich nichts kaufen will, wird mir bald langweilig. Ich folge einem Rinnsal marokkanischer Spaziergänger durch ein Tor, und plötzlich bin ich in einer anderen Welt. Wie ein reißender Gebirgsbach verläuft unter mir die Bahnstrecke, eine Brücke führt ins gegenüberliegende Viertel, und dort, wohin kein Tourist sich verläuft, beginnt das Leben, schmutzig und laut.
Ein Marktplatz voller Stände und Grillrestaurants
Der Sonntag hat die Familien aus den Vorstädten hergetrieben, Kinder quengeln um Süßigkeiten, Straßenverkäufer preisen ihre Waren an. Schon ist da ein Marktplatz voller Stände und Grillrestaurants, ich setze mich an einen Tisch, lese die Speisekarte, und siehe da: Es gibt Kamelfleisch! Sofort bestelle ich es. Ein Bursche rennt hinaus zu einem gegenüberliegenden Metzger, und eine Viertelstunde später darf ich es kosten. Seltsam! Es ist kaum zu unterscheiden von anderem Fleisch, eher schmeckt es milder, ohne eigenes Aroma. Warum wird es so selten angeboten?
Nach dem Essen laufe ich über den Markt, an den Ständen der Metzger vorbei, die die Köpfe der Kamele wie Trophäen aufgehängt haben. Man könnte sie für Wesen halten, die aus einem Zauberreich entführt worden und in unserem Lebensraum, ähnlich den Fischen, nur tot zu bewundern sind. Doch anders als Fische, Canetti sagt es, haben Kamele Gesichter. Ein Kind an der Hand seiner Mutter bleibt gebannt vor einer dieser Trophäen stehen. Nach einer Weile traut es sich, die wulstigen, grauen Lippen des toten Tiers zu berühren. Hinter dem Kopf ragt, das Fell abgezogen, der lange, muskulöse Hals hervor, und ich ahne: Das Beste vom Kamel, das, was ich gerade gegessen habe, war nichts anderes als das Fleisch von einem solchen Hals.
Stefan Weidner, Jahrgang 1967, arbeitet als Autor, Übersetzer und Literaturkritiker. Er hat zahlreiche Lyriker aus dem Arabischen übersetzt, darunter Adonis und Mahmud Darwisch - und er reist viel.