Programmtipp: Die Reihe "Mit Büchern reisen" wird in loser Folge in der Lesart (Montag - Freitag ab 10.07 Uhr, Samstag ab 11.05 Uhr) fortgesetzt.
Versunken im tiefen Hof der Moschee
Der Autor und Übersetzer Stefan Weidner hat Klassiker der Reiseliteratur wieder gelesen - und sie mit eigenen Reiseerfahrungen kombiniert. Auf den Spuren von Gustave Flauberts "Reise in den Orient" besucht er die Ibn Tulun-Moschee in Kairo.
"Hassan-Moschee: runde Vorhalle, Gewölbezwickel oder Stalaktiten, große Stricke, die von oben herabhängen. Wir ziehen Schlappen aus Palmgeflecht über.
Ibn Tulun Moschee, fast zerstört, war von Ibrahim Pascha für ein Spital vorgesehen. Abbas Pascha zog die Arbeiter ab zur Errichtung eines Landhauses an der Straße nach Matarijeh. – Riesenhof; Seitenschiffe mit Spitzbögen, die von rechteckig angeordneten Pfeilern getragen und an den vier Ecken jeweils von einer Säule flankiert werden."
(Zitat aus: Gustave Flaubert: Reise in den Orient: Aus dem Französischen von Reinhold Werner und André Stoll. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1996)
Die älteste Kairoer Moschee
Wir sind wie Flaubert von der Hassan-Moschee hinab gelaufen, über einen Schutthügel, dann durch ein Neubauviertel, und als wir, die Sonne ist schon im Sinken, die Touristen sind heimgefahren, zur Ibn Tulun-Moschee kommen, der ältesten der Moscheen von Kairo, fürchten wir, diese sei schon geschlossen. Doch das Eingangstor in der Umfassungsmauer steht offen, auch die zweite Tür zum Gebetssaal, und die drei Ägypter, die uns begrüßen, scheinen seit langem auf uns gewartet zu haben.
Wir müssen zahlen und bekommen Schlappen, nicht aus Palmgeflecht, sondern aus Plastik, dann lassen sie uns in Ruhe. Alles haben wir jetzt für uns: den Riesenhof, groß wie ein Exerzierplatz, die Seitenschiffe mit Spitzbögen, in der Mitte das Brunnenhäuschen für die Waschungen und gegenüber das berühmte, spiralförmige Minarett, laut einem alten Reiseführer "nicht mehr und nicht weniger als eine freie Kopie des berühmten Turmbaus von Babel.“ Hinter den zinnenbewehrten Mauern, im weiten, tiefen Moscheehof, bleibt Kairo auf geheimnisvolle Weise versunken, ausgeschlossen, der Wahrnehmung entzogen. Wir sehen, was vor hundertfünfzig Jahren Flaubert, vor über tausend Jahren die ersten Betenden sahen, als wären, mit den Augen zumindest, Zeitreisen möglich.
Der Anblick der Gegenwart: Slums
Bestiegen wir das Minarett, würden wir uns mit jeder Stufe tiefer in den Anblick der Gegenwart bohren, der Slums, der wild gebauten Häuser, ihres dunkelroten Backsteins mit Pfeilern aus Beton und Gräten aus Stahl, in das Dunkelgrau der Gassen, als hätte jemand einen Sack Vollkornmehl über der Stadt ausgeschüttet.
Wir bleiben unten im Hof, werden Zeugen, wie die sinkende Sonne das Licht aus allen Dingen saugt, wie die Kamera für die letzten Bilder alle paar Sekunden die Belichtungszeit verlängert, die Blende weiter öffnet, die Isozahl hochschraubt in einer Dämmerung, die wir hemmungslos schön finden, anheimelnd fast, als würde dieser Ort uns in dem Maß, in dem das Licht sich zurückzieht, mehr und mehr zugeeignet, überschrieben, anvertraut wie Treuhändern der anbrechenden, der kommenden, der heiligen Nacht. Glaubt es mir oder nicht: Es war Weihnachten!
Stefan Weidner, Jahrgang 1967, arbeitet als Autor und Übersetzer und als Literaturkritiker - unter anderem für Deutschlandradio Kultur. Er hat zahlreiche Lyriker aus dem Arabischen übersetzt, darunter Adonis und Mahmud Darwisch. Und: Er reist viel.