Sondierungsgespräche

Nach Jamaika ist vor Jamaika ist ...

Nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche
Nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche © dpa/Bernd von Jutrczenka
Von Max Thomas Mehr · 23.11.2017
Die Zeit der klassischen Regierungsbündnisse ist endgültig zu Ende, meint Max Thomas Mehr. Und die eigentliche Aufgabe der Parteien besteht nun vor allem darin, den Dialog zwischen der politischen Klasse und der Gesellschaft neu zu beleben.
Man mochte den Jamaika-Verhandlern schon vor dem Scheitern zurufen: Lasst es doch sein. Ihr habt es offenbar immer noch nicht begriffen – ob ein Kohlekraftwerk weniger abgeschaltet oder ein Kitaplatz mehr in kostenlose "Ganztagsbetreuung" umgewandelt werden kann, ob Hartz IV um ein paar Euro erhöht oder der Soli abgeschafft wird, sorry, darauf kommt es auch zukünftig nicht an. All das ist nicht schicksalsentscheidend im boomenden Germany. Auch nicht, ob Flüchtlinge mit nur subsidiärem Schutz Familienangehörige nachholen dürfen.
Raucht doch erst einmal eine Friedenspfeife. Sie muss ja nicht gleich mit den Hanfpflanzen von Cem Özdemirs Balkon gestopft werden. Und dann fangt nochmal ganz von vorne an über eure Lage nachzudenken.

Politik in der Stummfilmschleife

Schicksalsentscheidend ist der Klimawandel. Sicher. Doch wie stellt sich die Politik diesem Schicksal? Ein flüchtiges Bild von den Jamaika-Gesprächen kann da als Sinnbild gelten. Schüchtern halten ein paar um ihre Arbeit bangende Braunkohlekumpels aus der Lausitz hinter den Absperrungen, vis-à-vis der Parlamentarischen Gesellschaft, ihre Transparente in die Luft und rufen ein paar für den Fernsehzuschauer unverständliche Parolen. Die Kameras liefern derweil lieber endlose Stummfilmschleifen von hellerleuchteten Fenstern, hinter denen die Politiker unter sich verhandeln.

Es reicht nicht mehr für klassische Regierungsbündnisse

Egal ob Jamaika vor oder nach Neuwahlen doch nochmal in die Pötte kommt oder eine "Große Koalition", die schon lange keine mehr ist. Sondierungen darüber müssten heute viel weniger zwischen den Parteien, als zwischen der Gesellschaft und den Parteien geführt werden. Denn die traditionellen Volksparteien, die in den letzten 70 Jahren die Regierungen prägten, repräsentieren immer weniger den politischen Willen der Gesellschaft. In ihnen sammeln sich die Überreste einer längst untergegangenen Parteienaufstellung, in der die Arbeiterklasse traditionell immer rot wählte und das Bürgertum samt Kapital CDU. Heute wählen die Arbeiter immer öfter mal die Rechtspopulisten und das Bürgertum auch mal grün oder liberal. Es reicht für keine klassisch linken oder rechten Regierungsbündnisse mehr. Soll die sogenannte große Koalition nicht zum Dauerzustand werden, müssen sich Parteien und Gesellschaft neu sortieren.

Dialog zwischen der Politischen Klasse und der Gesellschaft

Das wäre die eigentliche Aufgabe eines Jamaika-Bündnisses: Den Dialog zwischen der Politischen Klasse und der Gesellschaft neu zu beleben und dabei vielleicht auch zu einer Neuformatierung der defizitär gewordenen repräsentativen Demokratie zu gelangen, die nicht mehr von den Hinterzimmern der überalterten Ortsgruppen und den Parteifunktionären bei Delegiertenversammlungen geprägt ist – bei Strafe des eigenen Untergangs. Spannend wäre es, wenn eine solche Koalition in ganz anderen Sondierungen den Lausitzer Kohlekumpeln den Übergang in eine andere Arbeitswelt aufzeigen müsste genauso wie übrigens den Siemens-Arbeitern, die gerade entlassen werden sollen. Denn die Turbinen, die die bauen, will auch keiner mehr. Spannend wäre es, sich von der Lebenslüge zu verabschieden, dass die Kriegsflüchtlinge in zwei, drei Jahren schon wieder zurück nach Syrien gehen oder nach Afghanistan. Auch die Grünen müssten erkennen, dass ein Horst Seehofer mit der "atmenden Obergrenze" von jährlich 200.000 Asylbewerbern und Flüchtlingen jedweder Art – politisch – im europäischen Maßstab ganz weit linksaußen angesiedelt ist.

Jeder glaubt für alle zu sprechen

Man hätte einer Jamaika-Koalition vier Jahre Zeit dafür gewünscht, diesen Dialog mit sich selbst, über die Parteigrenzen hinweg und in die Gesellschaft hinein zu organisieren. Stattdessen wird weiter jeder Stammtisch glauben, für alle zu sprechen genauso wie die Sondierungsrunde zur Regierungsbildung tatsächlich glaubte, sie spreche zumindest für die Mehrheit der Gesellschaft.

Max Thomas Mehr, Jahrgang 1953, ist freischaffender politischer Journalist und Fernsehautor. Er hat die Tageszeitung "TAZ" mitbegründet. Für das Drehbuch des Films "Sebnitz: Die perfekte Story" (produziert von Arte/MDR) wurde er mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet.

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