Sonneberg in Thüringen

Wie ein Jobcenter Flüchtlinge in Arbeit bringt

Der Syrer Nour Obaji bei seiner Arbeitsstelle bei PWG
Prüfen, ob es passt: der Syrer Nour Obaji bei seiner Arbeitsstelle bei PWG. © Ernst-Ludwig von Aster
Von Ernst-Ludwig von Aster |
Im Landkreis Sonneberg boomt die Wirtschaft, die Unternehmen suchen händeringend Personal. Ein Unternehmen kann jetzt erstmal aufatmen. Mehr als 30 neue Mitarbeiter vermittelte ihm das Jobcenter - allesamt Flüchtlinge.
Sonneberg, Thüringen, morgens um 5.20 Uhr. Der Bus 710 fährt am Bahnhof vor. Zehn Fahrgäste steigen ein. Einige Deutsche, etliche Syrer. "PWG – Neuhaus Schierschnitz" steht auf der Anzeige. Pünktlich um 5:25 Uhr rollt der Bus los. Seit einem Jahr fährt er im Linienbetrieb. Auf den Weg gebracht vom örtlichen Jobcenter. Und dessen Chef Andreas Karl.
"Die Firma PWG befindet sich in Neuhaus Schierschnitz. Das ist, wenn sie mit dem Auto dahinfahren, überhaupt kein Problem. So ein Flüchtling hat aber in der Regel auch kein Auto."

Fast jedes Werk sucht Mitarbeiter

Das Jobcenter liegt in Sonneberg, der Kreisstadt, mit 23.000 Einwohnern. Hier leben gut 300 anerkannte Flüchtlinge. Die Firma PWG liegt in einem Gewerbegebiet zehn Kilometer entfernt. Seit sieben Monaten pendelt daher Nour Obaji .
"Es ist halt ein bisschen streng vier Schichten zu arbeiten, weil wenn man wegen die Schlafrhythmus, es ist halt das Schwerste."
Der Bus rollt über die Bundesstraße. Vorbei an Gewerbegebieten. Neben fast jedem Werkstor wirbt ein Schild. "Wir stellen ein: Fahrer, Mechatroniker ..."

"Und wir haben gesagt, wenn wir dort auf Dauer dem Unternehmen helfen wollen, muss jeder ein Stück mithelfen. Dazu gehört aus unserer Sicht eine Buslinie."

Mit der neuen Busline zum Betrieb

Endstation PWG. Gut ein Dutzend Mitarbeiter steigt aus.
"Wir sind Automobilzulieferer, wir verarbeiten Aluminiumprofile zu Führungsschienen, Führungsrahmen, die dann eingebaut werden in alle Autos, die ein Panoramadach oder Schiebedach haben oder in Cabriolets."
Sandra Brieskorn kommt über den Gang der Werkshalle. Geht vorbei an großen Obstschüsseln. Gratis Vitamin-Snacks für die Mitarbeiter. PWG steht für Profilrollen-Werkzeug-Bau GmbH. Sandra Brieskorn ist die Personalchefin. Mit permanenten Personalproblemen.
"Das geht schon 4,5 Jahre, durch unser starkes Wachstum brauchen wir sehr viele Mitarbeiter. Und bei der sehr niedrigen Arbeitslosenquote, die wir hier in Sonneberg haben, wird es halt immer schwieriger Mitarbeiter zu finden."
Ihr Unternehmen ist international, gehört zu österreichischen Naumann Gruppe, produziert auch in der Slowakei und in China. Die Firma zahlt Tarif, hilft bei der Wohnungssuche. Das Alles erzählt Brieskorn Interessierten immer wieder. Und so hörte es irgendwann auch Raimund Becker. Einer der Vorstände der Bundesanstalt für Arbeit.
"Er wollte sich Unternehmen in der Grenzregion anschauen, war dann hier bei uns."
Zufällig. Denn bei einem anderen Unternehmen war das Management krank. Darum kam er zur PWG. Zusammen mit Landrat, IHK und Jobcenter-Vertretern. Das war vor eineinhalb Jahren.
"Wir haben ihm unsere Situation geschildert und dann kamen es eben langsam zu dem Projekt mit den Flüchtlingen. Wir haben uns die Firma angeschaut. Und dann sagt der Herr Becker: Haben sie es denn schon einmal probiert mit dem Thema Flüchtlinge … Nein, hatten sie noch nicht."

Ein bisschen Mut, ein bisschen Geld

Erinnert sich Jobcenter Chef Andreas Karl. 48 Jahre, kurze Haare, fliederfarbenes Hemd. Sein Chef aus der Zentrale in Nürnberg, kam, sah und sagte:
"Versuchen sie es doch einfach mal, haben Sie Mut, nehmen sie ein bisschen Geld in die Hand, naja, das ist immerhin ein Vorstandmitglied. Und an der Stelle dann haben wir gesagt, gut kriegen wir hin."
"Hinkriegen" damit haben sie in Sonneberg einige Erfahrung. Obwohl es meist mehr ums Herholen geht. Wenn andernorts Massenentlassungen drohen, greifen Karl und seine Kollegen zum Telefon. Kaum eine Jobmesse, auf der sie nicht um Arbeitskräfte buhlen.
"Wir haben hier in der Region Sonneberg im letzten Oktober erstmals mehr offene Stellen als Arbeitslose hatten."
Vorstand Becker fuhr zurück nach Nürnberg. Andreas Karl checkte in Sonneberg seine Daten: Rund 350 Flüchtlinge waren registriert. Alle anerkannt, die Verfahren abgeschlossen. Erst dann ist das Jobcenter zuständig. Karl griff zum Telefonhörer, rief eine Mitarbeiterin der Arbeiterwohlfahrt an, die sich schon lange um Flüchtlinge kümmerte.
"Wir sind durch die Firma gelaufen und haben uns die Arbeitsplätze angeschaut, weil meine Kollegin natürlich wissen musste: Was machen die Menschen dort, welchen Belastungen sind sie ausgesetzt."
Die AWO-Mitarbeiterin wechselte zum Jobcenter. Wurde zum Bindeglied zwischen Firma und Flüchtlingen. Die Firma wünschte sich handwerkliche Erfahrung und Deutschkenntnisse. Die Flüchtlinge eine Festanstellung und fairen Lohn nach Tarif. Das Jobcenter suchte die Balance. Und weitere Unterstützung.
"Wir haben uns noch einen Bildungsträger gesucht, der die ganze Begleitmusik gemacht hat, der die Kunden, die wir rausgesucht haben, betreut haben, sie haben sie also nochmals sprachlich unterstützt."

Das Projekt wird zum Selbstläufer

Am Anfang stand für alle Interessenten ein Praktikum. Den Fahrdienst organisierte das Jobcenter:
"Wir haben also mit kleinen Zahlen angefangen, 2,4,6 und das Unternehmen hat sehr schnell gemerkt, es funktioniert. Und dann kamen die Bedarfe, dann kamen sehr kurzfristig Bedarfe, und dann hieß es dann auch mal auf einem Donnerstag Mittag, wir brauchen am Montag fünf oder zehn neue."
Noch heute muss Karl tief durchatmen, wenn er an die Zeit zurückdenkt. Wir waren an unserer Belastungsgrenze, sagt er. Und lacht:
"Und das Allerschönste an diesem Projekt ist, es war dann irgendwann ein Selbstläufer. Die Leute sind gekommen, Flüchtlinge sind gekommen, zu uns hier in Jobcenter und haben mit den Kollegen gesprochen: Wir möchten bei PWG arbeiten."

"Ein paar von meinen Freunden haben schon hier gearbeitet und ich habe gefragt, und ein bisschen aufs Internet geschaut. Und was macht die Firma."
Nour Obaji, 20 Jahre, geboren in Aleppo, seit zwei Jahren in Deutschland. Seit sieben Monaten bei der PWG.
"Ich kontrolliere manchmal die Teile, wir haben mehrere Prüfungen und ich muss die Prüfungen durchführen an die Teile, ob es passt oder nicht."
In Syrien hat er zwei Semester Zahnmedizin studiert. Dann musste er fliehen. Ließ seine Familie zurück. Dortmund, Essen, Suhl,– die deutschen Behörden schickten ihn quer durch die Republik. Schließlich kam er nach Sonneberg. Und zur PWG.
"Am Anfang war es schwer hier Kontakte zu knüpfen, weil die meisten hier sind nicht Deutsche, sondern verschiedene Nationalitäten, und es ist hat schwer mit denen zu kommunizieren, weil nicht so viele können Deutsch oder Englisch."
Eine eigens eingerichtete Buslinie führt nun zum PWG-Werk.
Eine eigens eingerichtete Buslinie führt nun zum PWG-Werk.© Ernst-Ludwig von Aster

Endlich ein Job und eine eigene Wohnung

Mittlerweile klappt die Verständigung. Und er nervt seine afrikanischen und rumänischen Kollegen, dass sie besser Deutsch lernen sollen. Die Arbeit macht mich unabhängig, sagt Nour Obaji. Keine Pflichttermine mehr beim Jobcenter. Keine Anträge für Extra-Anschaffungen. Er hat eine eigene Wohnung, muss bei Anschaffungen nicht mehr auf jeden Cent achten. Und er kann seine Zukunft weiter planen: Zuhause, nach der Arbeit, lernt er weiter Deutsch. Im Internet. Denn für sein Sprachniveau, C 1, gibt es in Sonneberg keine Kurse mehr.
"Was hat sie denn vorher gemacht, bevor sie nach Deutschland gekommen ist? Universität, Chemie."
Im Jobcenter scrollt Steffen Ritter durch die elektronische Akte einer jungen Frau. Sie kommt aus Jordanien, hat Chemie studiert. Ihr Mann sitzt daneben.
"Es vergeht jene Woche, wo ich persönlich nicht auch jemanden in Arbeit bringe."
Seit neun Jahren arbeitet Ritter für die Bundesanstalt für Arbeit. Erst vermittelte er ältere Arbeitnehmer, dann beriet er Arbeitgeber. Seit knapp einem halben Jahr bringt er Flüchtlinge in Arbeit.
"Spannend, spannend, weil wirklich ganz viel unterschiedliche Kulturen, Sprachen, Ausbildungsstände da sind, also es gibt wirklich ganz, ganz viel unterschiedliche Dinge, die man machen kann. Und es ist deutlich interessanter, wie bei dem ein oder anderen Deutschen vielleicht, der seit zehn Jahren arbeitslos ist."
Die Arbeit macht richtig Spaß, sagt Steffen Ritter. Und lacht. Auch wenn es manchmal knirscht.
"Man hat es auch ganz häufig, dass Flüchtlinge zur Tür reinstürmen, ich habe jetzt ein Problem, in einem gebrochenen Deutsch, das man sagt, jetzt geht’s nix, ich habe jetzt keine Zeit, dann wir halt auf dem Haxen rumgedreht und gesagt, wir Deutschen sind alles Nazis und dann rennt man halt fort."
Und kommt an einem der nächsten Tage wieder. Mit Termin.

Das Jobcenter betritt neues Terrain

Bei der PWG beugt sich Personalchefin Brieskorn über ihre Unterlagen.
"Das war ja auch ein komplett neues Terrain, was wir begehen würden, wir hatten keinerlei Erfahrungen."
Die Unterstützung vom Jobcenter hat geholfen, sagt sie, auch die Zusammenarbeit mit den Bildungsträgern: Die halfen bei Arztterminen, kümmerten sich um GEZ-Anmeldungen und organisierten einen Abendsprachkurs. Das Unternehmen entwickelte spezielle Schichtpläne.
"Wir haben auch versucht, nicht alle in eine Gruppe an einen Bereich zu setzen, sondern wir haben sie verteilt schön im Unternehmen, so dass alle kommunizieren können, dass die Deutschkenntnisse sich verbessern, das vielleicht auch mal privat was gesprochen wird."
Im vergangenen Jahr, sagt die Personalchefin, habe auch sie viel dazu gelernt.
"Ein Mitarbeiter von uns zum Beispiel rief vor einigen Wochen an, er muss unbedingt zuhause bleiben, weil es gab einen Bombenanschlag in Kabul und der Bruder seiner Frau kam dabei ums Leben, das man sagt, mach das mit deiner Frau, regel das, wir haben dafür Verständnis."
Brieskorn blickt kurz auf ihre Unterlagen. Rund 400 Mitarbeiter sind bei der PWG angestellt.
"Eingestellt haben wir, Stand heute, 33 neue Mitarbeiter aus dem Bereich der Flüchtlinge und nach dem Praktikum nicht eingestellt werden wollten, das waren fünf."
Und immer noch melden sich Flüchtlinge beim Jobcenter. Und möchten zu ihrer Firma. Sandra Brieskorn lächelt. Ein klarer Vorteil. Gegenüber den anderen Unternehmen in der Region.

Auch andere Unternehmen werden neugierig

"Die sind jetzt erst aufgewacht, anfänglich haben sie erst ein wenig mit Skepsis betrachtet. Und haben erstmal abgewartet, mal schauen, wie das funktioniert. Mittlerweile haben wir jetzt auch vom Jobcenter gehört, dass Firmen angefragt haben, sie möchten doch auch so ein Projekt starten."
"Wir haben letztes Jahr sehr viele unserer Kunden integriert, es waren für das kleine Jobcenter bei vielleicht 300 Flüchtlingen, die wir hier betreuen, 138 Integrationen."
Das ist eine Integrationsquote von mehr als 40 Prozent. Das schaffe kaum ein Jobcenter in Deutschland, sagt Karl. Doch je mehr Menschen er in Arbeit bringt, desto weniger Geld kann er ausgeben.
"Wir haben leider, leider dieses Jahr schon deutlich weniger Geld bekommen, das ist schade drum."
Das ist kein böser Wille, sondern schlichte Jobcenter Arithmetik. Je weniger Bedürftige, desto weniger Zuweisungen, so die Ausstattungslogik. Die erste Integrationswelle konnte das Jobcenter noch aus seinem eigenen Etat stemmen.
"Aber ich muss in Vorleistung gehen, muss erstmal Geld reinstecken, und muss investieren. Und allein aus dem Grund kann das kein Regelgeschäft sein. Weil einfach dafür reicht mein Budget nicht aus."

Jetzt gibt es weniger flankierende Maßnahmen

Also gibt es jetzt weniger flankierende Maßnahmen. Wie zusätzliche Sprachkurse. Und Betreuung in der Anfangsphase. Schade eigentlich, sagt der Jobcenter Chef. Denn Integration rechne sich:
"Und die Leute, die da arbeiten sind ja komplett bei uns aus dem Leistungsbezug herausgefallen. Und wir sind jetzt schon an einer Stelle, wo ich sage, wir sind schon dick im Plus, wir haben jetzt schon mehr Geld eingespart durch dieses Projekt, als es uns unterm Strich gekostet hat."
Um 13:47 Uhr stoppt Bus 710 im Gewerbegebiet. Feierabend für die Frühschicht. Auch für Nour Obaji:
"Ich habe noch viele Möglichkeiten. Arbeit in der Firma an sich hört sich gut an. Vielleicht eine Ausbildung oder weiter studieren, also das weiß ich jetzt noch nicht genau."

Viele haben Jahresverträge

Langsam zuckelt der Bus Richtung Sonneberg. Wie jeden Tag. Viele Flüchtlinge haben Jahresverträge, die laufen demnächst aus.
"Die werden alle in die Beschäftigung übernommen, wir haben mit allen sehr gute Erfahrungen gemacht, da wird natürlich der Vertrag verlängert und die werden dann weiter bei uns beschäftigt bleiben, wenn sie wollen."
Sagt die PWG-Personalchefin. Der Bus passiert das Ortsschild "Sonneberg". Ein Stückchen weiter sitzt Andreas Karl in seinem Jobcenter Büro. Und freut sich. Über den Nahverkehr zum Arbeitsmarkt.
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