Soraya Chemaly: "Speak out! - Die Kraft weiblicher Wut"
Aus dem amerikanischen Englisch von Kirsten Riesselmann und Gesine Schröder
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
393 Seiten, 20 Euro
Intellektueller Schlag gegen die Dominanzkultur
06:20 Minuten
Die Autorin Soraya Chemaly spürt in "Speak out" den Diskriminierungen nach, die Frauen wütend machen können – und den vielen Gründen, warum sie ihre Wut so selten zeigen. Ein brillantes Feuerwerk der berechtigten schlechten Laune - ein Buch am Puls der Zeit.
Ein Flugzeugpassagier erleidet einen Herzinfarkt. Als eine Ärztin helfen will, hält die Flugbegleiterin sie auf und winkt einen Mann zum Patienten durch, der sich auch als Mediziner ausgibt: Da die Frau keinen schriftlichen Nachweis ihrer ärztlichen Ausbildung vorlegen könne, gehe die Sicherheit des Patienten vor, heißt es.
Erfahrungsberichte und Studien
Soraya Chemalys Buch "Speak Out" ist ein brillantes Feuerwerk der berechtigten schlechten Laune. Kraftvoll arbeitet sich die Autorin durch alle aktuellen Varianten der Frauendiskriminierung, untersucht, warum weibliche Wut sich so selten artikuliert, wie sich das ändern ließe und wofür das gut wäre.
Mitreißend bewegt sie sich hin und her zwischen packenden Erfahrungsberichten und einer beeindruckenden Recherche psychologischer, soziologischer, biologischer und politikwissenschaftlicher Studien.
Seite um Seite belegt Soraya Chemaly mit Quellenangaben und Prozentzahlen, wie selten Ehemänner Hausarbeiten übernehmen, Jungen die Spülmaschine ausräumen müssen, Schulen Mädchen technisches Interesse zutrauen, Krankenhäuser Frauen adäquat mit Schmerzmitteln versorgen oder Gerichte dafür sorgen, dass Internetaktivistinnen vor der täglichen Flut misogyner Bedrohungen bewahrt bleiben.
Sie weiß auch, welche Frauen zu den frustriertesten und vom Leben am stärksten enttäuschten gehören: verheiratete weiße Mittelständlerinnen, die für Kinder und Ehe ihren Beruf aufgegeben haben.
Schon Mädchen unterdrücken ihre Wut
Machtvolle soziale Mechanismen – die Autorin arbeitet sie heraus – sorgen dafür, dass schon kleine Mädchen Angst davor haben, Unmut zum Ausdruck zu bringen. Welche körperlichen und psychischen Krankheiten durch unterdrückte Wut entstehen, kann Soraya Chemaly selbstverständlich auch auffächern. Selbst wenn Frauen über Unrecht in Zorn zu geraten wagen – ihre Umwelt erkennt es oft nicht einmal.
Während Frauen und Männer in Studien neutrale Frauengesichter gern als "unterwürfig" oder "verängstigt" beschreiben und wütende androgyne Gesichter fast ausschließlich als "männlich" einstufen, halten sie zornige Frauengesichter mehrheitlich für "traurig".
Gift und Gegengift
Soraya Chemaly ist eine woman of color, darum denkt sie rassistische Diskriminierung immer mit, ebenso wie die Benachteiligung von queeren Menschen.
In einer Zeit, in der massenhafter Alltagsrassismus und allgegenwärtige Gewalt gegen Frauen durch #Icantbreathe und #MeToo endlich auch im Fokus der Mainstream-Medien stehen, demonstriert die Autorin überzeugend, dass sich die Feinstrukturen unserer Kultur erst begreifen lassen, wenn man die Diskriminierungserfahrungen der Menschen einbezieht, die in der Dominanzkultur grundsätzlich die schlechteren Karten haben.
Die Ärztin im Flugzeug war eben nicht nur eine Frau – sie war auch eine Schwarze.
Am Ende ihres großartigen Buches gibt Soraya Chemaly Ratschläge, wie sich Empörung und Wut konstruktiv für nachhaltige Veränderungen einsetzen lassen:
"Wut kann ein Gift sein, aber auch das Gegengift dazu. Die Wut, die wir als Frauen empfinden, ist radikal und visionär."