Sorj Chalandon: "Am Tag davor"
Aus dem Französischen von Brigitte Große
DTV, München 2019
319 Seiten, 23 Euro
Tief verschüttete Wahrheit kommt ans Licht
04:53 Minuten
Spannend wie ein Krimi, düster wie eine Kohlenhalde: Der preisgekrönte Schriftsteller Sorj Chalandon erzählt im Roman "Am Tag davor" die Vorgeschichte eines Grubenunglücks – tiefgründig und ungemein bewegend.
1885 erschien Émile Zolas Schlüsselwerk des Naturalismus, "Germinal", in dem er die unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Kohlebergwerken Nordfrankreichs anprangert. Es mag überraschen, dass ein französischer Autor sich fast anderthalb Jahrhunderte später erneut dieses Themas annimmt. Umso mehr als das Ereignis, das den Mittelpunkt des Romans "Am Tag davor" auszumachen scheint, ein Grubenunglück am 27. Dezember 1974, selbst schon mehrere Dezennien zurückliegt.
Doch war es eben diese Katastrophe, die den damals 22-jährigen Sorj Chalandon, Mitarbeiter der im Vorjahr von Jean-Paul Sartre mitbegründeten "Libération", zutiefst beeindruckte, und den inzwischen vielfach preisgekrönten Schriftsteller zu seinem neusten Buch inspiriert hat.
Doch war es eben diese Katastrophe, die den damals 22-jährigen Sorj Chalandon, Mitarbeiter der im Vorjahr von Jean-Paul Sartre mitbegründeten "Libération", zutiefst beeindruckte, und den inzwischen vielfach preisgekrönten Schriftsteller zu seinem neusten Buch inspiriert hat.
Ein System, das Familien zerstört
Natürlich ist es ein politisches Buch, vor allem aber ein packendes literarisches Werk, das den 42 Opfern der Explosion in der Zeche Saint-Amé in Liévin gewidmet ist. Doch ist nicht von ihnen die Rede, aus Respekt, wie der Autor in Interviews versichert, sondern von einem fiktiven 43. Toten, und vor allem von dessen 'kleinem' Bruder, 16 Jahre alt zum Zeitpunkt des Unglücks. Sein Leben lang will er Rache nehmen, natürlich für den Tod des von ihm vergötterten Älteren, doch gleichzeitig auch an einem System, das nicht nur seine Familie zerstört hat.
Das klingt nun alles sehr plakativ, und gerade dies ist der Roman nicht. Das tiefe Schwarz des Kohlenstaubs bildet ein Leitmotiv. Ganz, ganz langsam dringen wir Leser in das Innenleben des Icherzählers Michel ein, der uns erst auf Seite 194 einen ersten Hinweis darauf gibt, was an jenem "Tag davor" wirklich geschehen ist.
Michel hat den Norden und die Zechen verlassen, aber in einer Pariser Garage eine Art Grubenmuseum geschaffen, das seine Frau Cécile als "Mausoleum" bezeichnet und verabscheut: "Mein ganzes Unglück komme daher, behauptet sie. Von diesen sinistren Erinnerungsstücken, die mich aus Schacht 3B bis nach Paris verfolgt hätten." Nach Céciles Tod kehrt Michel in seine alte Heimat zurück, verübt dort am 41. Jahrestag der Katastrophe, was er für Rache hält.
Soziale Spannungen sind omnipräsent
Die gesamte zweite Hälfte des Buches ist den Folgen seines Tuns gewidmet: Festnahme, Untersuchungshaft, Prozess – stets aus der Innensicht des Protagonisten. Gemeinsam mit ihm entdecken wir die Wahrheit, die aber so tief in ihm verschüttet war, dass erst die Ermittlungen sie bruchstückweise ans Tageslicht fördern. All dies liest sich einerseits fast so spannend wie ein Krimi, ist andererseits so düster wie eine Kohlenhalde oder der Gefängnisalltag.
Die Sprache ist schlicht, aber dennoch ist der Roman ungemein bewegend. Die sozialen Spannungen – ob zwischen der Bauernfamilie, aus der Michel und sein Bruder stammen, und der Zeche, oder zwischen Kumpeln und Bergwerksleitung – sind omnipräsent, doch letztlich nur als Hintergrund von Michels Denken und Handeln. So tragisch die Schicksale auch sein mögen, Pathos finden wir nicht, abgesehen vielleicht vom Plädoyer der Anwältin ganz am Schluss, das noch eine weitere Überraschung dieses bewegenden Buches bildet.