Sotschi

"Kritisches muss man suchen"

Jens Siegert, Leiter des Moskauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, auf einem Bild aus dem Jahr 2012.
Jens Siegert, Leiter des Moskauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, auf einem Bild aus dem Jahr 2012. © picture alliance / Heinrich-Böll-Stiftung / Andrea Kroth
Jens Siegert im Gespräch mit Ulrike Timm · 07.02.2014
Das russische Fernsehen ist vom Kreml kontrolliert und berichtet über die Winterspiele deshalb nur positiv, sagt Jens Siegert von der Heinrich-Böll-Stiftung. Aber es werde auch kritisch berichtet - vor allem im Internet.
Ulrike Timm: Wer nach Sotschi fliegt, der sieht unter sich den ewigen Winter – nur weiß. Und da, wo das Weiß dann zu Ende ist, da lässt Präsident Putin heute Abend die Winterspiele beginnen. Sotschi, der Badeort am Schwarzen Meer, derzeit blauer Himmel, acht Grad. In den Bergen, da liegt schon Schnee, und was nicht reicht, das werden gebunkerte Vorräte und Schneekanonen schon richten. Nun wurde die Natur schon in Albertville 1992 plattgemacht, Montreal zahlte 30 Jahre lang bis 2006 an seinen Winterspielen, und die Zensur war auch in China das Mittel der Wahl, der eigenen Bevölkerung die Spiele schmackhaft zu machen. Aber in Sotschi kommt in bisher unbekanntem Ausmaß alles zusammen. Die Homophobie und die komplette Umgestaltung einer ganzen Region setzt Putin bei Sotschi, bei seinen Spielen, noch oben drauf.
Mit welcher Berichterstattung der Präsident in Russland rechnen darf, darüber sprechen wir mit Jens Siegert, dem Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau, die ihre Arbeit daraufhin ausrichtet, mehr demokratische politische Kultur zu ermöglichen. Schönen guten Tag, Herr Siegert!
Jens Siegert: Schönen guten Tag!
Timm: Was erfährt denn der russische Fernsehzuschauer heute Abend von den Spielen?
Siegert: Ja, heute Abend ist die Eröffnungsfeier, und ich denke, da wird gefeiert werden, da wird nur Positives gezeigt werden, da wird Herr Putin wahrscheinlich sehr prominent dabei sein. Und das sollte man den Menschen hier auch gönnen, weil die meisten freuen sich doch auf die Olympiade.
Timm: Ich habe gehört, danach gibt es noch so eine Art Werbefilm, der zeigt, wie Papa Putin das alles geregelt hat.
Siegert: Ja, dass Propaganda im russischen Fernsehen gemacht wird, das ist ja wahrscheinlich nichts Neues. Die wichtigsten Fernsehkanäle, das sind die drei landesweit empfangbaren Kanäle, sind zu 100 Prozent vom Kreml kontrolliert, und da wird über Putin ausschließlich Positives berichtet.
Timm: Wie viele Menschen sehen die?
Gesetz verbietet Schimpfen in der Öffentlichkeit
Siegert: Nach unterschiedlichen Schätzungen – es gab dazu einmal eine Umfrage des Lewada-Zentrums, das ist das letzte unabhängige Umfrageinstitut hier – informieren sich über 80 Prozent der Menschen hier in Russland vorwiegend über politische und andere Ereignisse aus dem Fernsehen.
Timm: Es heißt, dass die Mittel der Berichterstattung, dass das noch mal verschärft wurde, dass jetzt schon Schimpfworte verboten seien. Wer legt denn fest, was Schimpfworte sind?
Siegert: Na ja, es gibt im Russischen eine eigene Schimpfsprache, das heißt, die ist vom Wortstamm her, von der Wortherkunft relativ einfach für jeden Menschen, der Russisch kann, zu erkennen. Die unterscheidet sich einfach davon. Und solche Schimpfworte gibt es, die eigentlich fast jeder Mensch hier in Russland kennt und auch die meisten benutzen, die aber auch ansonsten im normalen Umgang eigentlich als unanständig gelten. Und dazu hat es im letzten Jahr tatsächlich ein Gesetz gegeben, das die Benutzung dieser Schimpfsprache in der Öffentlichkeit verbietet. Das ist eines der vielen Gesetze in den letzten ein, zwei Jahren, die angeblich Leute schützen sollen, zum Beispiel Kinder schützen sollen, die aber die Freiheit der Menschen, sich hier auszudrücken, erheblich einschränkt.
Timm: Gibt es denn auch Medien, die die offizielle schimpfwortfreie Berichterstattung unterlaufen?
Siegert: Na ja, die schimpfwortfreie Berichterstattung zu unterlaufen, ist jetzt schwierig, weil das ist vom Gesetz her verboten und da kann man für bestraft werden, bis dazu, dass das Massenmedium zugemacht werden kann. Aber das bezieht sich natürlich nicht auf zum Beispiel kritische Berichte über die Olympiade oder über die Korruption der Olympiade oder auch über Präsident Putin. Und wenn Sie ins Internet gehen oder auch eine ganze Reihe von Zeitungen, einige wenige Radiostationen und es gibt noch einen einzigen meistens oder im Wesentlichen im Internet und in ein paar Kabelfernsehkanälen zu empfangenden Fernsehsender, da erfahren Sie auch sehr viel Kritisches. Sie müssen aber eben suchen.
Kritische Webseite wird nicht blockiert
Timm: Nun schätzen ja Fachleute, dass diese Winterspiele durch alle Umstände die sind, wie sie sind, so teuer sind wie die letzten fünf Winterspiele zusammen. Erfährt man davon auch etwas in Russland?
Siegert: Ja, wie gesagt – in den Quellen, von denen ich eben gerade gesprochen habe. Es gibt zum Beispiel eine Website von Alexei Nawalny, das ist ein oppositioneller Politiker, der durch einen sehr konsequenten Kampf gegen Korruption sehr bekannt geworden ist, und auf dieser Website kann man das alles haarfein nachlesen. Die wird auch nicht blockiert, wie das zum Beispiel in China der Fall ist, die ist offen zugänglich. Man muss das aber wissen, man muss sich dafür interessieren, man muss Zugang zum Internet haben. Im Fernsehen wird darüber so nicht berichtet.
Timm: Wenn Sie in Moskau auf die Straße gehen, sind dann die ausländischen Berichte von Umweltsünden, von den Kosten, von Repressionen gegen Homosexuelle, sind das für die Moskauer Miesmacherberichte aus dem Ausland oder sind das Informationen, die sie für wichtig nehmen?
Siegert: Das kommt drauf an, welche. Nicht alle diese Berichte werden gleich bewertet. Also was zum Beispiel die Diskriminierung von Homosexuellen und anderer sexueller Minderheiten anbelangt hier in Russland, da hat Putin relativ leichtes Spiel. Über 80 Prozent der Menschen finden das gut, dass diese Leute, wie dann gesagt wird, in Anführungsstrichen, dass die sich nicht mehr so aufspielen dürfen. Das ist dann immer das, was gesagt wird, dass die nicht so in der Öffentlichkeit auftreten. Das ist eigentlich eine sehr populäre Maßnahme.
Wenn es um Korruption geht, ist das schon eine andere Frage. Die meisten Menschen wissen das sehr gut. Nach einer Umfrage des schon erwähnten Lewada-Instituts sind über 60 Prozent der Menschen der Meinung, dass es bei den Vorbereitungen von Sotschi sehr viel Korruption gegeben hat, dass sehr viel Geld geklaut worden ist. Aber wenn man die Leute dann fragt, hätte man vielleicht die Olympischen Spiele hier nicht stattfinden lassen, nicht nach Russland holen sollen, dann sagt doch trotzdem eine Mehrheit: Wir finden es trotzdem gut, dass die Olympischen Spiele hier sind.
"Menschen ziehen Stabilität unter Putin einer ungewissen Zukunft vor"
Timm: Wir sprechen im "Radiofeuilleton" von Deutschlandradio Kultur mit Jens Siegert, dem Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau. Herr Siegert, der Schrifsteller Wladimir Kaminer, dessen Familie zum Teil aus der Region Sotschi kommt, der meint: hinfahren und vor Ort dann meckern, und erzählt weiter, dass er viele Menschen kennen würde, die Putin gewählt hätten, aber niemanden, der ihn mag. Ist das eigentlich typisch?
Siegert: Es gibt sehr viele solche Leute, und das ist eine Tendenz, die gibt es schon seit einigen Jahren, dass die Menschen Putin nicht wählen, weil sie ihn gut finden, sondern im Wesentlichen, weil sie keine große Alternative sehen. In den Nuller-Jahren, also so bis 2008, 9, 10 gab es eine Mehrheit, die in Umfragen angegeben hat, dass Putin ein wunderbarer Mensch ist und ein guter Politiker ist, und heute ist es eben so, dass die Menschen keine anderen, keine Alternative sehen, keine anderen Politiker sehen und deshalb wohl oder übel dann doch auch für Putin stimmen.
Timm: Und sie sehen natürlich auch keine Alternative, weil das Fernsehen ist, wie es ist, und die Katze sich damit in den Schwanz beißt.
Siegert: Das ist sicherlich einer der Gründe, das ist eine der Überlebensstrategien des hier herrschenden politischen Systems: keine Konkurrenten überhaupt erst öffentlich aufkommen zu lassen. Und dann kann man natürlich auch sagen: Es gibt keine Alternativen. Das liegt aber auch ein bisschen daran, dass die meisten Leute nicht wieder in die 90er-Jahre hin zurückwollen, in denen es dem Land wirtschaftlich sehr schlecht ging und in denen die Regierung doch ziemlich häufig gewechselt hat, und dass sie Stabilität einer wie auch immer, vielleicht besseren, aber doch eben immer ungewissen Zukunft bis heute vorziehen.
Timm: Nun ist ein großes Thema bei uns, wenn man auf Sotschi schaut, die Diskriminierung von Homosexuellen in Russland, und einige hoffen ja auch, dass sich homosexuelle Sportler zum Beispiel mit einem Outing, mit einer Demonstration dazu bekennen, und Sie haben uns geschildert, dass das in Russland aber Mainstream ist, Putins Linie, die das anfeindet, und es müssen Homosexuelle ja auch mit Prügel rechnen, wenn sie in Moskau zum Beispiel auf die Straße gehen. Wenn man nun von Sportlern ein Outing erhofft – wie realistisch ist das?
Siegert: Na, ich glaube, dass, wenn ein Olympiateilnehmer oder eine Olympiateilnehmerin da etwas zu sagt oder da etwas zu macht, ich mir kaum vorstellen kann, dass diesen Menschen irgendetwas passiert. Anders ist es schon, wenn es hier sich um einfache Menschen hier in Russland handelt oder wenn das irgendwo auf der Straße passiert. Ob das Sportler machen sollen oder nicht – ich glaube, das müssen diese Menschen selbst entscheiden. Ich würde niemanden direkt dazu auffordern. Es wäre schön, eine gewisse Solidarität zu zeigen. Das muss ja nicht unbedingt ein Outing sein.
"Gute Chancen, dass positives Bild der Spiele bleibt"
Timm: Aber wer scheint Ihnen denn da penibler auf die Show bedacht, die russischen Behörden oder das IOC?
Siegert: Ich glaube, die tun sich dabei nicht sehr viel. Insbesondere Herr Bach, der im vorigen Jahr neu gewählte, aus Deutschland stammende IOC-Präsident, ist ja ein sehr beliebter Mensch, weil er immer wieder betont, wie gut es doch hier alles in Russland ist und dass man das doch alles verstehen könne.
Timm: Nun ist das Kalkül ja klar: Die Bilder werden ganz wunderbar sein, und ab April wird niemand mehr nach den Umständen fragen. Wie wahrscheinlich ist es, dass dieses Kalkül in Russland aufgeht?
Siegert: Die Chance ist, denke ich, ziemlich groß. Deswegen ist Putin wahrscheinlich dieses, in Anführungsstrichen, "Abenteuer" auch eingegangen. Es gibt nur ein paar Sachen, die das Ganze noch verderben könnten. Eine Sache wäre natürlich, wenn, wie Ende Dezember geschehen, es während der Olympiade hier irgendwo in Russland einen Anschlag gibt. Das wäre sowieso ausgesprochen schlecht und man darf das niemandem wünschen, man muss sehr, sehr hoffen, dass das nicht passiert, aber das wäre auch politisch für Putin schlecht. Auch nicht besonders gut wäre es, wenn die russischen Sportler schlecht abschneiden würden oder zum Beispiel es einen größeren Dopingfall gäbe, in den russische Sportler verwickelt werden. Und ich denke, was die Olympischen Spiele noch ein bisschen verderben könnte, ist, wenn es in der Ukraine zum Beispiel jetzt zu größeren Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und der Opposition käme, das würde auch negative Auswirkungen darauf haben, wie die Spiele hier ankommen.
Timm: Na, vielleicht werden die die nächsten 14 Tage ganz bewusst vermieden. Wir sprachen mit Jens Siegert, dem Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau, herzlichen Dank fürs Gespräch!
Siegert: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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