Souleymane Bachir Diagne: "Philosophieren im Islam"
Übersetzt von Richard Steurer-Boulard
Passagen Verlag, Wien 2020
172 Seiten, 22,50 EUR
Fruchtbarer Kulturaustausch
06:32 Minuten
Das Denken in der islamischen Welt ist immer lebendig und offen geblieben, auch gegen Tendenzen zur religiösen Dogmatik. Das zeigt der senegalesische Philosoph Souleymane Bachir Diagne in seinem neuen Buch.
Wenn ein aus dem Senegal stammender, auf Französisch schreibender, in New York lehrender Literaturwissenschaftler und Philosoph in die Geschichte des muslimischen Denkens eintaucht, lohnt es sich, hinzuhören. Souleymane Bachir Diagne ist wie die meisten Senegalesen selbst Muslim, aber eben auch Schüler der modernen französischen Philosophie.
Entkolonialisierung der Philosophie
Diagne hat bei dem marxistischen Denker Louis Althusser studiert und sich in der Veranstaltungsreihe "Berliner Korrespondenzen" (dort mit Mathias Énard) unlängst als Sozialist bezeichnet. Nicht zuletzt geht es ihm um die "Entkolonialisierung der Philosophiegeschichte", die allzu oft aus einem eurozentristischen Geist heraus geschrieben wurde und den Islam als philosophiefeindlich abtat.
Sein Buch "Philosophieren im Islam" referiert das Denken der Muslime in herausragenden Beispielen, präsentiert aber auch Diagnes eigene Lesart dieses Erbes. Anlässe für Philosophie bot der Islam von Anbeginn. Bereits der Koran schließt das freie Denken nicht aus, sondern fordert es geradezu ein. Denn er gibt mit seinen oft widersprüchlichen Geboten und vielen, schwer verständlichen Versen zahlreiche Rätsel auf.
Dasselbe gilt für die Politik in der frühen islamischen Gemeinde: Drei der vier ersten Kalifen wurden ermordet. In der Folge kam es zum Schisma zwischen Schiiten und Sunniten. Aus dieser Geschichte lässt sich, anders als es die Fundamentalisten möchten, keine stabile Gesellschaftsordnung, keine eindeutige Politik ableiten: Erneut ist das eigenständige Denken gefragt.
Offenes Denken unter islamischen Vorzeichen
In zehn Kapiteln - ursprünglich Vorlesungen - zeigt Diagne, dass die Muslime in den folgenden Jahrhunderten diese Herausforderung angenommen haben, oft gegen den Widerstand religiöser oder politischer Autoritäten. Diagne erläutert die Rezeption von Platon und Aristoteles im Bagdader "Haus der Weisheit", berichtet von den Versuchen, Theologie und Rationalität zu vereinen.
Dabei kristallisiert sich bald sein Hauptanliegen heraus: Zu zeigen, dass das Denken auch unter islamischen Vorzeichen lebendig und offen gehalten werden kann, dass Dogmatismus und Erstarrung kein Schicksal des Islams sind.
Das hat sich, so Diagne, besonders in der produktiven muslimischen Auseinandersetzung mit der europäischen Moderne gezeigt. "Keine Islamisierung der Moderne", aber auch "keine Modernisierung des Islams", lautet für ihn die Devise. Besonders der indisch-muslimische Denker und Dichter Mohammed Iqbal, Vordenker des späteren Staates Pakistan, hat es Diagne angetan.
Bergsons Lebensenergie und Iqbals Mystik
In seiner Person schließt sich der Kreis: Er ist sowohl von der islamischen Mystik als auch von europäischen Denkern, von allem von Henri Bergson, beeinflusst. Bergsons Konzept des "Elan Vital", der Lebensenergie, ist es schließlich, welches das Potenzial bereithält, die geistige Beweglichkeit und Offenheit mit der Überlieferung und einer Idee des Göttlichen zu vereinen. Auch Ernst Bloch spricht hier ein Wort mit, der die materialistische Tradition der islamischen Philosophie in einem Essay betont hat, sodass sich Anschlussmöglichkeiten an den Sozialismus ergeben.
Es ist spannend, Diagne dabei zuzusehen, wie er sich von Vorlesung zu Vorlesung an seine Kernaussagen herantastet. Aber wer mit islamischer Philosophie noch nie konfrontiert war, dürfte bald von den zahlreichen Kontexten und Anspielungen, von denen Diagnes Text lebt, überfordert sein. Die konfuse, allzu sehr an der französischen Syntax klebende Übersetzung - man kennt von Richard Steurer entschieden bessere, etwa die von Jacques Rancière - erschwert die Rezeption zusätzlich. Es empfiehlt sich daher dringend, Diagne zusammen mit einer zugänglicheren Einführung in die islamische Philosophie zu lesen, etwa der von Ulrich Rudolph bei C.H. Beck.