Unsere Reihe "Sound Of The Cities": Punk wurde im London der Siebzigerjahre geboren, House und Techno haben ihre Wurzeln in Detroit, und der wütende Sound des Grunge stammt aus Seattle: Viele Sounds der populären Musik sind untrennbar mit bestimmten Städten verbunden. Andere Orte haben ebenso ihren Beitrag zur Popmusikgeschichte geleistet, ohne dass sie dafür berühmt wurden: Wie klingt die Musik von Antwerpen, wie das popmusikalische Stockholm, was ist der Sound von Köln? Philipp Krohn und Ole Löding portraitieren in unserer Reihe "Sound Of The Cities" zehn bekannte und weniger bekannte Musik-Städte. Sie lassen Musiker, Plattenhändler, Club-Betreiber und Journalisten Musik-Geschichten und Musik-Geschichte erzählen, auf der Suche nach dem Klang der Städte, von Antwerpen bis Austin, von Glasgow bis Wien.
Die Avantgarde-Metropole
Jenseits des Mainstreams ist in Antwerpen schon seit den 70er-Jahren eine spannende, popmusikalische Avantgarde-Szene entstanden. Trotzdem hat die Stadt auch international erfolgreiche Bands wie dEUS hervorgebracht.
"Die Leute beeinflussen sich gegenseitig. Es gibt so etwas wie einen gesunden Wettbewerb. Jeder spielt mit jedem, es gibt viele gemeinsame Bands. Auf eine Art ist es wirklich durcheinander gemischt und gleichzeitig ist es nicht gleichförmig. Es gibt sehr viel Unterschiedliches, aber die Leute arbeiten zusammen."
Aldo Struyf sitzt in einem Studio von "Radio Centraal", einer kleinen nicht-kommerziellen Radiostation in Antwerpens Innenstadt. Gerade hat er für eine avantgardistische Radiosendung seine Lieblingslieder vorgestellt. Viel obskure Musik war zu hören. Musik, wie er sie selbst in seinen Bands Creature With The Atom Brain und Millionaire gespielt hat.
Antwerpen ist eine übersehene Musikmetropole in Europa. Die Hafenstadt in Flandern steht im Schatten von Brüssel oder Amsterdam. Radiohits kommen aus den Hauptstädten. Antwerpen hingegen ist für die musikalische Avantgarde zuständig. Eine Stadt, die stolz auf ihre hohe Internationalität ist. Daraus entsteht in den 70er-Jahren eine der erstaunlichsten Subkulturen.
"Popcorn" heißt der neue Sound. Statt mit 45 Umdrehungen werden Singles auf 33 Umdrehungen verlangsamt abgespielt. Mit Vorliebe obskure amerikanische Soul-Musik aus den 50er- und 60er-Jahren.
Ein basslastiger und erotischer Klang ist das Ergebnis. In Scheunen und improvisierten Clubs tanzt man hierzu Blues oder Jive. Oft tanzen Männer mit Männern. Für die Schwulenbewegung ist Popcorn eine Befreiung. Antwerpen ist am Puls des musikalischen Zeitgeistes. Das zeigt sich auch Ende der 70er. Die Punkrevolution startet hier besonders früh, The Kids sind eine der ersten belgischen Punkbands außerhalb Englands.
Mitte der 80er-Jahre bricht in der ganzen Welt ein elektronischer Musikboom aus. Auch Antwerpen ist früh dabei. Wieder gehen es die Belgier etwas anders an. "New Beat" mischt New Wave, Acid House und Industrial zu einem düsteren, basslastigen Sound.
Die Rockband dEUS prägte die 90er
Ab Ende der 80er-Jahre legen belgische Projekte wie Technotronic oder die Lords of Acid den Grundstein für EuroDance und Techno. Ihre Fans tragen Mercedessterne und Smileys.
Während die Welt noch zu Techno tanzt, gründet sich in Antwerpen eine der ungewöhnlichsten Rockbands Europas. Die fünf Musiker von dEUS vermischen Anfang der 90er-Jahre harten Rock und Punkeinflüsse mit avantgardistischem Jazz. Stef Kamil Carlens erinnert sich.
"Die ganze Sache war wirklich nicht sehr ambitioniert. Die Leute spielten einfach zusammen, weil sie die Musik mochten, aber auch weil sie auf den Lebensstil standen. Es gab eine Menge Partys, Alkohol, Drogen. Es ging darum einfach darum, eine gute Zeit zu haben. Musik zu machen war ein Teil dieses Lebenswelt."
dEUS schaffen mit "Worst Case Scenario" eine der prägenden Platten der 90er-Jahre. Ihr internationaler Erfolg wird zum Vorbild für Musiker aus der Stadt.
K’s Choice beispielsweise gelingt mit "Not an Addict" ein Welthit. Die heisere Stimme von Sängerin Sarah Bettens und ihre offene Homosexualität inspirieren Fans und Musiker weltweit.
Auch heute ist Antwerpen eine aufregende Musikstadt. Zwar kommen wenige Hits aus Flandern. Dafür aber entsteht hier avantgardistische Elektronik von Mittland och Leo, experimentelle Weltmusik von der Zita Swoon Group, düsterer Wüstenrock von The Flying Horseman.
Den großen Karriereplan haben die meisten Musiker aus Antwerpen auch heute nicht, wie Aldo Struyf deutlich macht:
"Wenn jemand das, was ich mache, nicht mag: Mir egal. Wenn jemand mich kritisiert: Ist mir egal. Und ich glaube, das geht hier den meisten Leuten so. Man geht seinen eigenen Weg. Und dabei geht es nicht darum, groß herauszukommen oder so etwas."