Christian Schüle, 45, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der ZEIT und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Autor in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman "Das Ende unserer Tage". Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter im Bereich Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.
Das Ende eines Zeitalters
Sie hat für eine offenere Gesellschaft, für mehr Geschlechtergleichstellung und die soziale Zähmung der Marktwirtschaft durch den Mindestlohn gesorgt. Und nun? Läuft der Sozialdemokratie das Volk davon, meint der Philosoph und Journalist Christian Schüle.
Obwohl man in den Kommentarspalten deutscher Zeitungen seit Langem von einer Sozialdemokratisierung der politischen Agenda spricht, obwohl seit Jahren von einer Sozialdemokratisierung der CDU und Angela Merkels, ja, mehr noch: des Gesellschaftsverständnisses die Rede ist, obwohl der Occupy-Zeitgeist eines wohlfeilen Salon-Sozialismus die herrschende kapitalistische Ordnung anklagt, verachtet und beseitigen will, muss klar und deutlich gesagt sein:
Das sozialdemokratische Zeitalter ist zu Ende. Es hat keine weitere Entfaltungsmöglichkeit mehr. Der SPD ist das Schlimmste widerfahren, was einer Partei geschehen kann: Sie hat sich zu Tode gesiegt. Ihre Themen sind normative Normalität des Alltags geworden: Sie hat die deutsche Gesellschaft zu höherer Sensibilität für Schutz und Sicherheit der sogenannten Verlierer, Abgehängten und “kleinen“ Leute erzogen. Sie hat für Bildungsverbreiterung und Bildungsexpansion, für eine offenere Gesellschaft, für mehr Geschlechtergleichstellung und die soziale Zähmung der Marktwirtaschaft durch den Mindestlohn gesorgt.
Und nun? Läuft ihr das Volk davon, und geht gnadenlos die Zeit über sie hinweg.
Drei unschlagbare Feinde
Die SPD hat keine Chance mehr, das Tal der Traurigkeit aus eigener Kraft zu verlassen, weil sie drei unschlagbaren Feinden wehrlos ausgeliefert ist: dem Merkelianismus, der technologischen Evolution – und sich selbst.
Der Merkelianismus, erstens, ist jener merkwürdige Machiavellismus bundesdeutscher Spätmoderne, dessen Sozialtechnik die Bundeskanzlerin aufs subtilste beherrscht: Eroberung durch Aushöhlung, Machterhaltung durch Entzug, Gestaltung durch Vermeidung. Wie der Kapitalismus seine Defekte durch Kapitalisierung korrigiert, den Widerstand gegen sich vereinnahmt und produktiv vermarktet, so christdemokratisiert Angela Merkel den Sozialdemokratismus, indem sie ihn sediert, ausweidet und sich ihn peu à peu einverleibt. Die epochale Kunst des Merkelianismus besteht in der Kraft zur Anästhesie.
Die technologische Evolution, zweitens, hat zur digitalen Revolution geführt und uns alle auf die Schwelle zu einer kognitiven Epoche gesetzt, die mit einer alle Bereiche durchdringenden Virtualisierung, mit der Ent-Körperlichung von Arbeit und der Entwertung von Internationalität durch Globalität der sozialdemokratischen Vergangenheits-Verklärung ihre Grenzen aufzeigt.
Intellektuell entkernt, hat die Sozialdemokratie in Zeiten globalistischer Ökonomie keine tragfähige ökonomische Gegenthese und über die diffusen Idee eines "vorsorgenden Sozialstaats" hinweg keinen alternativen Weltentwurf anzubieten.
Drittens ist die SPD die deutsche Selbstzerfleischungspartei par excellence – eine Partei, deren Energien zur Eigendemontage jenseits des in einer Demokratie nötigen Meinungsstreits nicht nur legendär, sondern für ein Volk wie das deutsche, das sich nach Verlässlichkeit, Sicherheit und Vertrauen sehnt, kaum begreifbar sind.
Genossinnen und Genossen – das klingt nach peinlicher Patina eines verkrampften Klassenkampfs, der freilich gar nicht mehr existiert: Das homogene Industrie-Proletariat gibt es heute nicht mehr, die früher schlagkräftig organisierte Arbeiterklasse hat sich diversifiziert, und Facharbeiter sind oft weit besser bezahlt als Freiberufler und Kleinunternehmer.
Vom Kampf gegen die eigene Bedeutungslosigkeit
Nun bedeutet der Satz vom Ende des sozialdemokratischen Zeitalters nicht notwendig, dass auch die schwerfällige SPD als Partei am Ende ist. Die entscheidende Frage im Kampf gegen die eigene Bedeutungslosigkeit ist nur, wer den ehrenwerten Don Quichotte der nahen Zukunft gibt, den Ritter der traurigen Gestalt, der – mit oder ohne Ur-Wahl aufgeboten – seine hellroten Divisionen gegen die Windmühlen eines formidablen Bruttoinlandsprodukts antreten lässt, um am Ende immer wieder bei den ewigen 25 Prozent zu landen und Frau Merkel zur erneuten Kanzlerschaft zu gratulieren. Genau genommen ist das: tragisch.