"Die SPD sollte sich nicht verstecken"
Zuspruch für die kriselnde Volkspartei SPD kommt von IW-Direktor Michael Hüther: Die Partei solle zu ihren Erfolgen stehen, vor allem der Agenda 2010. Durch diese sei 1,5 Millionen Sozialhilfeempfängern ein Weg auf den Arbeitsmarkt eröffnet worden.
Quo vadis, SPD? Der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW), Michael Hüther, empfiehlt, nicht auf einen Umverteilungsdiskurs zu setzen, sondern zu ihren Erfolgen zu stehen, vor allem zur Agenda 2010.
IW-Direktor: Es geht uns besser, als es die gesellschaftliche Debatte suggeriert
Eine Umverteilung von oben nach unten "kann nicht der Weg" sein, sagt Hüther. Schließlich seien durch die Agenda 2010 bereits fünf bis sechs Milliarden Euro mehr ins steuerfinanzierte System gebracht worden.
Auch seien 1,5 Millionen Erwerbsfähige aus der Sozialhilfe in die Arbeitsförderung genommen worden. "Es ist ihnen gerade damit ein Weg eröffnet worden, in den Arbeitsmarkt einzusteigen", betont der IW-Direktor.
Hüther zufolge stellt sich die gegenwärtige gesellschaftliche Situation offenbar besser dar, als es der öffentliche Diskurs suggeriert.
"Man kann natürlich argumentieren, seit 1983 bis heute ist die Mitte geschrumpft. Aber welcher historische Bogen steht dahinter? Wir haben in den letzten zehn Jahren eine Stabilität der Mitte."
Auch in der unteren Einkommensschicht seien die Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage geringer als vor zehn Jahren. "Die SPD sollte sich nicht verstecken", so der IW-Direktor.
Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Die SPD ringt um ihre Identität. Nur noch ein Drittel der Wähler traut der ältesten Partei Deutschlands ja zu, für Solidarität und Gerechtigkeit zu stehen. Aber wo steht die SPD, wo sind ihre Wurzeln? Das wollte SPD-Chef Sigmar Gabriel Anfang der Woche mit einer "Wertekonferenz Gerechtigkeit" klären und hat bekannt: Wir haben Fehler gemacht. Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge hat hier bei uns im Programm gestern erklärt, wo sie
Fehler gemacht hat.
Fehler gemacht hat.
Christoph Butterwegge: Die Gesellschaft ist so reich, dass sie, glaube ich, durchaus dafür sorgen kann, durch Umverteilung von oben nach unten, dass alle Menschen mitgenommen werden, dass nicht ein immer breiterer Niedriglohnsektor entsteht auf der einen Seite, und auf der anderen Seite müssen aufgrund auch der Steuerpolitik der SPD die Erben von ganzen großen Konzernen keinen Euro betriebliche Erbschaftssteuer zahlen. Das kann es doch nicht sein.
Brink: Ist das also der Weg, den die SPD gehen muss, nach links zu rücken? Professor Michael Hüther leitet das Institut der Deutschen Wirtschaft. Ich grüße Sie, guten Morgen!
Michael Hüther: Guten Morgen, Frau Brink!
Lob für die Agenda 2010
Brink: Gehen wir mal von den Thesen Butterwegges aus, die ja die gute alte Umverteilung von oben nach unten empfehlen. Ist das der Weg?
Hüther: Das kann nicht der Weg sein, denn die SPD hat dies alles schon geleistet. Es wird immer vergessen, dass die Agenda 2010 in hohem Maße viel mehr Geld in das steuerfinanzierte System gebracht hat. Es sind fünf bis sechs Milliarden, die durch diese Reform zusätzlich zur Verfügung stehen.
Und man darf nicht vergessen: 1,5 Millionen Erwerbsfähige sind aus der Sozialhilfe in die Arbeitsförderung genommen worden, es ist ihnen gerade damit ein Weg geöffnet worden in den Arbeitsmarkt einzusteigen durch gezielte Ansprache, durch gezielte Förderung, durch gezielte Programme. Also, die SPD sollte sich nicht verstecken. Sie hat mit der Agenda 2010 den Arbeitsmarkt geöffnet, und sie hat viel mehr Menschen damit auch Erwerbschancen gegeben.
Brink: Was stimmt denn nicht an der Verteilungstheorie, Ihrer Meinung nach?
Hüther: Mein Eindruck ist, es wird hier vieles auch in ein schräges Licht gesetzt. Man kann natürlich argumentieren, seit 1983 bis heute ist die Mitte geschrumpft. Aber welcher historische Bogen steht dahinter?
Wir haben in den letzten zehn Jahren eine Stabilität der Mitte. Wir haben bremsen können, wir haben stoppen können das Schrumpfen der gesellschaftlichen Mitte. Und trotzdem, in einem Umfeld das zu tun, in dem die Globalisierung sich intensiviert hat, in der wir Krisen erlebt haben, die Krise 2009 hat dort reingehagelt, wo die hohen Einkommen entstehen, in der Industrie.
Chancengerechtigkeit statt Verteilungsgerechtigkeit
Nein, wir müssen fragen, ob im Kern die Chancen, die gewährt werden, genommen werden, und ob hinreichend Chancen da sind. Und da sind wir heute besser als vor zehn Jahren. Ob wir gut sind, ist eine andere Frage, aber kann man diesen Absolutheitsanspruch überhaupt realistisch umsetzen? Wir müssen ja auch pragmatisch in der Welt uns bewegen, wie sie nun mal ist.
Brink: Was ist denn dann Chancengerechtigkeit, wenn wir dann weg von der Verteilungsgerechtigkeit zur Chancengerechtigkeit kommen? Wie definieren Sie die dann?
Hüther: Nun, dass jeder den gleichen Zugang zum Bildungssystem hat, dass wir als Gesellschaft auch früh schauen, wenn Defizite da sind, beispielsweise mit der Sprachstandserhebung zum vierten Geburtstag. Das ist außerordentlich wichtig, weil wir dort erkennen können, dass in Familien Defizite entstehen, die später nur sehr viel mühsamer, mit viel größeren gesellschaftlichen Kosten zu korrigieren sind.
Das Bildungssystem insgesamt zu ertüchtigen, aus dem Bildungssystem heraus eine gute Startposition zu bauen, aber auch viele Menschen durch Weiterbildung dann zu stabilisieren. Es ist viel zu tun, aber es ist auch viel schon getan worden. Und wir sind heute besser, der Niedriglohnsektor ist seit zehn Jahren in seiner relativen Bedeutung nicht mehr angestiegen.
Schwierige Einzelschicksale bei guter Gesamtsituation
Brink: Aber das Dilemma der SPD ist doch, die Menschen spüren das nicht. Es gibt ja diese Unzufriedenheit. Sie sagen ja gerade, das hat man auch auf dieser Wertekonferenz gesehen: "Ihr kümmert euch nicht um uns!" Also die Empfindung ist dann, pardon, eine andere als Ihre Zahlen.
Hüther: Ja, wir haben natürlich auch immer Wahrnehmungen, die dem widersprechen. Aber die Frage ist, lässt man sich auf Einzelstimmen und sicherlich viel Respekt verlangende, schwierige Einzellebensschicksale ein oder schaut man sich an, was in den Stimmungserhebungen wirklich deutlich wird.
Wir sehen heute, dass auch in der unteren Einkommensschicht die Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage viel geringer sind als vor zehn Jahren, insgesamt in der Gesellschaft so niedrig wie seit Anfang der 90er-Jahre nicht. Das ist insofern wichtig, weil ja das Argument, über mehr Erwerbschancen, über das Angebot, in Arbeit erfolgreich sein zu können, diese Sorgen auch abnehmen. Tatsächlich ist das eingetreten. Wenn ich mir also den gesamtgesellschaftlichen Befund nehme, kontrastiert der zudem, was Einzelschicksale zum Vortrag bringen.
"Steht zur Agenda 2010!"
Brink: Aber wie kommt dann die SPD aus diesem Dilemma raus?
Hüther: Es fängt ja immer dort an, dass man zu dem steht, was man gemacht hat. Wenn man nicht bereit ist, zu dem zu stehen, was man gemacht hat, in der Erkenntnis dessen, was funktioniert hat –
Brink: Aber das tun sie doch eigentlich. Das hat doch Sigmar Gabriel nie in Frage gestellt. Das predigt er doch dauernd.
Hüther: Na ja. Sie stehen nicht zur Agenda 2010. Man konnte am Montag auf der Wertekonferenz im Grunde sehr breit erleben, dass das, was sich mit dem Namen Gerhard Schröder verbindet an wirtschaftlicher Reform, weit weg ist, dass ist nicht mehr in der Mitte der SPD verankert. Und es ist auch nie von der SPD als ihr Erfolg gefeiert worden. Wenn sie das erst einmal täte, könnte sie auch weiter fragen, wo müssen wir uns intensiver drum kümmern. Also um die Weiterbildung, um jene, die am Rand stehen in ganz schwierigen Lebenssituationen.
Aber die Rente mit 63 ist kein Angebot für diejenigen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Das sind 45 Versicherungsjahre, das sind in der Regel Männer, die gut verdienen, die sich dieses leisten können. Sie hat also eine Politik gar nicht für die gemacht, um die es hier dann in der öffentlichen Debatte wirklich geht.
Rente mit 63 hilft denen am Rande der Gesellschaft nicht
Brink: Also Politik für wen und wie muss sie dann tun, machen?
Hüther: Sie muss wirklich auf die Probleme eingehen, und sie muss auch deutlich machen, dass sie das nicht mit den großen Systemen nur hinbekommt. Ich kann beispielsweise Altersarmut nicht mit der gesetzlichen Umlagerente adressieren und vermeiden. Ich muss damit umgehen, dass ich eine Grundsicherung benötige, die steuerfinanziert ist. Und auch da kann die SPD für sich in Anrechnung bringen, dass sie die verbessert hat.
Sie hat mit der Riester-Reform zugleich die Grundsicherung für Ältere anders gestaltet. Sie hat sehr viel mehr Schonvermögen zugelassen, sie hat die Anrechnungen deutlich reduziert, sodass es ein faires Angebot ist, das man weiter prüfen kann. Man kann zum Beispiel fragen, ob die Anrechnung von Riester auf die Grundsicherung fair ist. Finde ich zum Beispiel nicht. Das kann man ändern.
Aber ein sehr viel stärkerer Hebel liegt in der Wohnungspolitik. Die Sorgen älterer Menschen haben mit den hohen Kosten für Wohnungen zu tun. Das bringt sie in Grundsicherungsnöte. Dort genau hinzuschauen, indem man den Wohnungsmarkt mobilisiert.
Brink: Vielen Dank, Professor Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft. Danke für das Gespräch!
Hüther: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.