Zu viele Fälle, zu schlecht bezahlt
Den Kinderschutz bezeichnet Kay Biesel als ein "Hochrisikofeld", besonders wenn in Familien Gewalt vorkommt. Fachkräfte, die in den Ämtern über 100 Fälle verwalten müssten, könnten keine Beziehungsarbeit leisten, so der Soziologe in Deutschlandradio Kultur.
Hanns Ostermann: Familie können Halt geben, ein wunderbarer Rückzugsort sein. Sie können aber auch zur Hölle werden, zur Hölle für Kinder, die sich nicht wehren können. "Deutschland misshandelt seine Kinder", so der Titel eines Buches von Berliner Rechtsmedizinern, das jetzt herausgekommen ist. Bei uns im Deutschlandradio Kultur meinte gestern die Koautorin Saskia Guddat:
Saskia Guddat: Solange wir nach wie vor mindestens 150 tote Kinder pro Jahr – und Sie dürfen nicht vergessen, wir reden hier über das Hellfeld. Wir reden über die Zahlen, die von der Polizei erfasst werden. Wir reden noch gar nicht über das Dunkelfeld. Wir gehen davon aus, dass auf jedes getötete Kind, das angezeigt wird, auch ein getötetes Kind kommt, was nicht angezeigt wird. Und wir gehen davon aus, dass auf jedes angezeigte misshandelte Kind, das ärztliche Hilfe braucht, je nach Studien zwischen 50, einige Studien sagen sogar, 200 oder 400 Kinder kommen, bei denen die Misshandlung nie aktenkundig wird. Und solange wir auf diesen konstant hohen Zahlen bleiben, glaube ich, sind wir weit davon entfernt, sagen zu können, das ist jetzt alles gut, wir sind zu einer Kultur geworden, die wirklich hinschaut.
Ostermann: Von dieser Kultur sind wir wohl wirklich meilenweit entfernt, das dürfte auch Professor Kay Biesel bestätigen; er ist gelernter Soziologe, Sozialpädagoge und Sozialarbeiter. Er leitet ein Projekt, das die Kinder- und Jugendhilfe in Hamburg verbessern soll. Guten Morgen, Herr Biesel!
Kay Biesel: Guten Morgen!
Ostermann: Sie können sich wie ein Arzt Wut oder Empörung beruflich nicht leisten. Sie müssen analysieren und schnell reagieren, um beraten zu können. Gibt es einfache Erklärungen, warum das Krisenmanagement in diesem Bereich nicht klappt?
Biesel: Einfache Erklärungen gibt es natürlich da überhaupt nicht. Wir sind in einem Hochrisikofeld im Kinderschutz, insbesondere, wenn die Kinder- und Jugendhilfe mit Familien zu tun hat, wo Gewalt vorkommt. Und die große Frage ist mal, wie kriegen wir eigentlich einen Zugang zu diesen Familien, damit sie sich auch rechtzeitig an die Kinder- und Jugendhilfe, an das Jugendamt wenden. Bevor es zu spät wird, bevor sie tatsächlich dann auch im Extremfall ihre Kinder schlagen, bis zum Tode prügeln. Und die Frage ist, wie viel Vertrauen können sie denn auch in die Systeme gewinnen, sodass sie Unterstützung holen und dass dieser Extremfall eben nicht auftritt. Das ist die große Schwierigkeit.
Ostermann: Sind Personalmangel und mangelhafter Datenaustausch zum Beispiel ganz entscheidende Punkte?
Biesel: Ja, sicherlich die Frage von Personal und wie man dieses Personal verteilt. Und die Frage ist, wie viele Fälle Jugendämter tatsächlich auch verantworten können, also Fachkräfte in den allgemeinen Sozialen Diensten. Darüber muss man sicherlich eine Diskussion führen, weil die Frage ja immer ist, wie oft können eigentlich Fachkräfte aus Jugendämtern die Familien sehen, wie können sie in Beziehung zu ihnen gehen. Und wenn sie dann über hundert Fälle haben, die sie verwalten müssen, dann ist das mit der Beziehungsarbeit eigentlich unmöglich.
Ostermann: Ja. Und da fordern Sie schon seit Jahren eine Organisationskultur der Fehleroffenheit in der Sozialen Arbeit. Was heißt das eigentlich im Klartext? Dass der Sozialarbeiter seinem Chef sagt, ich schaffe es nicht, oder ich bin mir in der Beurteilung eines Falles nicht sicher?
Biesel: Das hat eigentlich zwei Seiten. Einerseits ist Fehleroffenheit gegenüber der eigenen methodischen Arbeit, also sich auch selber infrage zu stellen, ob das, was man tut, tatsächlich auch dem entspricht, was man heute erwarten kann von der Profession Soziale Arbeit. Aber es richtet sich natürlich auch insgesamt an die Organisation Sozialer Arbeit. Also eine Kultur zu schaffen, wo man Störungen entdeckt, frühzeitig, die maßgeblich auch die Arbeitsbedingungen der Fachkräfte an der Basis negativ beeinflussen.
Ostermann: Das setzt aber voraus, dass Vorgesetzte, Politiker und ich weiß nicht, wer noch, mit Schwächen oder Problemen anderer umgehen können. Davon sind wir doch meilenweit entfernt.
"Eine Frage der politischen Kultur und der Mittelverteilung"
Biesel: Das weiß ich nicht, ob wir davon meilenweit entfernt sind. Ich würde sagen, dass das vielleicht unterschiedlich interpretiert wird. In jedem Falle müsste man, wenn man Schwachstellen in Organisationen entdeckt, zeitnah darauf reagieren und entsprechend auch umstrukturieren, Ressourcen anders verteilen. Das ist aber tatsächlich auch eine Frage der politischen Kultur und der Mittelverteilung. Und dann geht es da immer um Mehrheiten. Manchmal ist die Soziale Arbeit an der Stelle dann politisch schwach vertreten.
Ostermann: Herr Biesel, wie funktioniert das System von Kinder- und Jugendhilfe bisher zum Beispiel in Hamburg? Also, welche Behörden kümmern sich um möglichen Missbrauch?
Biesel: Ganz generell und natürlich auch in Hamburg, die Kernorganisation für den Kinderschutz, das ist das Jugendamt. Das Jugendamt wird zuständig, wenn es Hinweise auf Fälle von Kindeswohlgefährdung bekommt. Und die Hauptmeldegruppen, das sind klassischerweise nach wie vor Schule, Polizei, aber auch freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe, also zum Beispiel Träger von Kindertageseinrichtungen. Und wenn solche Hinweise auf Kindeswohlgefährdung eingehen, dann hat das Jugendamt entsprechend diese zu überprüfen. Und es gibt auch mittlerweile deutschlandweit etablierte Routinen und Gefahrverfahren, sodass die Jugendfachkräfte zumeist innerhalb von 24 Stunden, je nach Meldegrund, dann auch vor Ort in die Familien gehen und überprüfen, was da los ist.
Ostermann: Vorausgesetzt, die Informationen werden weitergegeben. Und was machen Sie jetzt in Ihrem Programm? Also, wie evaluieren Sie?
Biesel: Die Jugendhilfeinspektion, das ist ein neues Projekt aus Hamburg mit der Idee, dass diese Behörden – Behörde oder Organisationseinheit, quasi die allgemeinen sozialen Dienste – dabei hilft, förderliche oder hinderliche Faktoren für gutes beziehungsweise schlechtes Arbeiten im Kinderschutz, aber auch in den erzieherischen Hilfen zu identifizieren. Zielvereinbarungen daraus abzuleiten, und dann gegebenenfalls auch umzusteuern. So, dass tatsächlich das Jugendhilfesystem in Hamburg ein System wird, das aus der Logik des Kindes her denkt. Nämlich immer zu fragen, was können wir tun, damit es dem Kind gut geht, und sind die Arbeitsbedingungen entsprechend auch so gestaltet?
Ostermann: Mit welcher Kritik müssen Sie da leben? Gibt es möglicherweise auch Widerstände gegen Ihr Projekt?
"Wo fängt man zuerst an?"
Biesel: Ja. Die liegen natürlich ganz klar auf der Hand. Auf der einen Seite gibt es natürlich eine starke Intention, nicht nur in Hamburg, sondern deutschlandweit, auch viel für Qualitätsmanagement und Sicherung in der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere im Kindesschutz zu tun. Auf der anderen Seite beklagen sich viele Fachkräfte der allgemeinen sozialen Dienste, dass die Ressourcen eigentlich nicht ausreichen, dass sie zu schlecht bezahlt werden, zu viele Fälle haben.
Und dann muss man sich natürlich die Frage stellen, wo fängt man zuerst an? An der Basisarbeit, diese abzusichern, die Ressourcen zur Verfügung zu stellen und dann für Qualitätsmanagement zu sorgen, oder Qualitätsmanagement zu machen, ohne dass man die Basis eigentlich stärkt, dass sie überhaupt ihre Professionalität, die erreicht worden ist in den letzten hundert Jahren der Professionsgeschichte, kann man fast sagen, dann auch aufrechterhalten zu können. Und daraus resultiert dann quasi auch eine Konfliktlinie oder auch ein gewisses Misstrauen gegenüber dieser Figur oder dieser Form der Qualitätssicherung.
Ostermann: Immerhin hat in Hamburg der Senat reagiert und Sie seit einem halben Jahr etwa zur Beratung hinzugezogen. Ob dann die richtigen Konsequenzen gezogen werden, das sei ja dahingestellt – aber ist die Hansestadt ein Einzelfall oder holen sich auch andere Bundesländer wo auch immer Rat von außen?
Biesel: Also insgesamt würde ich sagen, das Interesse an Qualitätssicherung ist stark gestiegen. Es gab ein Bundesmodellprojekt in den letzten Jahren, das nannte sich "Aus Fehlern lernen – Qualitätsmanagement im Kinderschutz". Da haben über 50 Kommunen mit ihren Jugendämtern und Partnern auch teilgenommen. Also dass die Kinder- und Jugendhilfe zu wenig Interesse an Qualitätsmanagement hat, das würde ich verneinen. Die Frage ist nur, ob sie die Zeit und die Ressourcen haben, um das auch in die Fläche zu tragen. Das ist momentan die große Frage. Aber mit dem Bundeskinderschutzgesetz sind eigentlich alle rechtlichen Grundlagen gegeben, dass die Kernorganisation der Kinder- und Jugendhilfe, das Jugendamt mit ihren Partnern jetzt tatsächlich auch Qualitätsmanagement flächendeckend einführen und umsetzen muss.
Ostermann: Professor Kay Biesel von der Uni Basel. Er leitet ein Projekt in Hamburg, um die Organisation der Kinder- und Jugendhilfe zu verbessern. Herr Biesel, Danke für das Gespräch!
Biesel: Bitte sehr!
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