Soziale Gerechtigkeit
Die politischen Parteien sind sich alle einig, und sie haben Recht: Das zentrale gesellschaftspolitische Problem unserer Gegenwart ist die soziale Gerechtigkeit. In der Tat durchwirkt die soziale Gerechtigkeit unsere Strukturen, unsere Kultur und unser Verhalten.
Wahlen werden mit dem Thema soziale Gerechtigkeit gewonnen und verloren. Selbst Bildung und Begabung gelten als eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit beherrscht den Zeitgeist. Sie ist die Macht im Staate. Das gilt nicht nur für Deutschland. Das gilt für alle westlichen Gesellschaften. Soziale Gerechtigkeit konvertiert zudem außenpolitische Fragen zu innenpolitischen. Sie universalisiert und egalisiert die Welt. Sie reformiert unsere Beziehungen zu anderen Kulturen und anderen Ländern, auch den fernsten und fremdesten. Soziale Gerechtigkeit hat alle anderen imperialen Ideologien transformiert und abgelöst.
Jedes mit jungen Afrikanern vollgepackte Ruderboot, das an der italienischen Küste landet, verlangt es, die in Europa gültige Theorie von sozialer Gerechtigkeit in die Praxis umzusetzen. Christus oder Moses, Sokrates oder Buddha hätten diese Theorie wohl nicht verstanden, auch Luther nicht. Für sie wird Gerechtigkeit nur dann sozial, also menschlich, wenn sie Menschen von gleicher Tradition und Kultur zu einer Gemeinsamkeit von Pflichten und Rechten bündelt. Hier ist Gerechtigkeit nicht abstrakt, sondern konkret, sinnlich, persönlich. Sie kann nicht verordnet werden.
Gerechtigkeit als soziale, also als administrative Kategorie ist eine eigenartige europäische Erfindung. Sie ist revolutionär. Sie bricht mit jener Einheit von Rechten und Pflichten, die seit Jahrtausenden den Kern dessen ausmacht, was man Gerechtigkeit nennt. So zerstört sie das dialektische Gleichgewicht von Pflichten und Rechten. Sie begründet damit einen halbierten Begriff von Gerechtigkeit. Wer über Rechte verfügt, vernachlässigt Pflichten. Wer Pflichten wahrnimmt, hat oft weniger Rechte. Gerechtigkeit verkümmert zu einem Forderungskatalog. Natürlich ging es in der antiken Philosophie, in der Scholastik und im Protestantismus um Rechte, aber auch - und vor allem - um Pflichten. Anders formuliert: Wer die Gerechtigkeit ihrer Dialektik beraubt, der ist nicht gerecht, sondern totalitär, der will nicht Freiheit, sondern Herrschaft.
Wie konnte es zu dieser Halbierung der Gerechtigkeit kommen? Ebenso wie in anderen historischen Fällen: aus Versehen, als unbeabsichtigte Nebenwirkung. Zu diesen Nebenwirkungen gehören die strukturellen Veränderungen. Manchmal allerdings sind die alten Strukturen mit den neuen identisch, auch wenn die Aufgaben neu sind. Zwei geschichtsmächtige Autoren - John Locke und Jean-Jacques Rousseau - haben den Begriff der sozialen Gerechtigkeit für uns geprägt, und sie haben, wenn auch ungewollt, eine neue Klassengesellschaft erschaffen. Bei allen individuellen und intellektuellen Unterschieden sind die ideologischen Gemeinsamkeiten der beiden Aufklärer weitgehend kongruent.
Erstens: Der Mensch ist autonom und hat das Recht, sich frei zu entfalten. Der heutige Begriff der Selbstverwirklichung ist im Denken der beiden Autoren angelegt. Der Mensch hat Rechte, aber keine Pflichten. Daraus folgt zweitens: Der Mensch muss durch gesellschaftliche Verträge gebunden werden. Das berühmte Buch von Rousseau heißt sogar: "Le contract social". Sowohl Locke als auch Rousseau abstrahieren soziale Beziehungen als Vertragsbeziehungen. Der Weg zum bürokratischen Sozialstaat ist daher kurz, der zum totalitären Unterdrückungsstaat auch nicht viel länger. Drittens: Das Menschenbild der beiden Denker ist egalitär. Alle Menschen seien gleich: "Gleich-berechtigt" war gemeint, "gleich-gültig" kam inzwischen zustande. Wir kennen dieses Gleichheitskonzept in der Forderung, die Unterschiede zwischen den Menschen – und seien sie noch so evident – nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Das Konzept der sozialen Gerechtigkeit ist als Abschied von der hochdifferenzierten Adels-Gesellschaft des Mittelalters verständlich, hat aber ärgerliche Konsequenzen für den modernen Staat. Wir haben nämlich wieder eine Drei-Klassen-Gesellschaft und damit auch eine neue Plebs. Die arbeitet in der Produktion, die hat Pflichten. Wir haben eine neue Bourgeoisie, eine neue leisure-class. Die konsumiert. Die hat Rechte. Und wir haben einen neuen Adel, die Funktionäre. Die haben alles, die Macht. Dem Väterchen Stalin wird – wie man hört – in der ehemaligen Sowjetunion nachgetrauert, weil der die soziale Gerechtigkeit verwirklicht habe.
Alexander Schuller ist Soziologe, Publizist und Professor in Berlin. Er hatte Forschungsprofessuren in den USA (Princeton, Harvard) und ist Mitherausgeber von "Paragrana" (Akademie-Verlag). In seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen befasst er sich mit Fragen der Anthropologie und der Bildungs-, Medizin-, Geschichts- und Alltagssoziologie. Er arbeitet als Rundfunk-Autor sowie für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften wie "Merkur" und "Universitas".
Jedes mit jungen Afrikanern vollgepackte Ruderboot, das an der italienischen Küste landet, verlangt es, die in Europa gültige Theorie von sozialer Gerechtigkeit in die Praxis umzusetzen. Christus oder Moses, Sokrates oder Buddha hätten diese Theorie wohl nicht verstanden, auch Luther nicht. Für sie wird Gerechtigkeit nur dann sozial, also menschlich, wenn sie Menschen von gleicher Tradition und Kultur zu einer Gemeinsamkeit von Pflichten und Rechten bündelt. Hier ist Gerechtigkeit nicht abstrakt, sondern konkret, sinnlich, persönlich. Sie kann nicht verordnet werden.
Gerechtigkeit als soziale, also als administrative Kategorie ist eine eigenartige europäische Erfindung. Sie ist revolutionär. Sie bricht mit jener Einheit von Rechten und Pflichten, die seit Jahrtausenden den Kern dessen ausmacht, was man Gerechtigkeit nennt. So zerstört sie das dialektische Gleichgewicht von Pflichten und Rechten. Sie begründet damit einen halbierten Begriff von Gerechtigkeit. Wer über Rechte verfügt, vernachlässigt Pflichten. Wer Pflichten wahrnimmt, hat oft weniger Rechte. Gerechtigkeit verkümmert zu einem Forderungskatalog. Natürlich ging es in der antiken Philosophie, in der Scholastik und im Protestantismus um Rechte, aber auch - und vor allem - um Pflichten. Anders formuliert: Wer die Gerechtigkeit ihrer Dialektik beraubt, der ist nicht gerecht, sondern totalitär, der will nicht Freiheit, sondern Herrschaft.
Wie konnte es zu dieser Halbierung der Gerechtigkeit kommen? Ebenso wie in anderen historischen Fällen: aus Versehen, als unbeabsichtigte Nebenwirkung. Zu diesen Nebenwirkungen gehören die strukturellen Veränderungen. Manchmal allerdings sind die alten Strukturen mit den neuen identisch, auch wenn die Aufgaben neu sind. Zwei geschichtsmächtige Autoren - John Locke und Jean-Jacques Rousseau - haben den Begriff der sozialen Gerechtigkeit für uns geprägt, und sie haben, wenn auch ungewollt, eine neue Klassengesellschaft erschaffen. Bei allen individuellen und intellektuellen Unterschieden sind die ideologischen Gemeinsamkeiten der beiden Aufklärer weitgehend kongruent.
Erstens: Der Mensch ist autonom und hat das Recht, sich frei zu entfalten. Der heutige Begriff der Selbstverwirklichung ist im Denken der beiden Autoren angelegt. Der Mensch hat Rechte, aber keine Pflichten. Daraus folgt zweitens: Der Mensch muss durch gesellschaftliche Verträge gebunden werden. Das berühmte Buch von Rousseau heißt sogar: "Le contract social". Sowohl Locke als auch Rousseau abstrahieren soziale Beziehungen als Vertragsbeziehungen. Der Weg zum bürokratischen Sozialstaat ist daher kurz, der zum totalitären Unterdrückungsstaat auch nicht viel länger. Drittens: Das Menschenbild der beiden Denker ist egalitär. Alle Menschen seien gleich: "Gleich-berechtigt" war gemeint, "gleich-gültig" kam inzwischen zustande. Wir kennen dieses Gleichheitskonzept in der Forderung, die Unterschiede zwischen den Menschen – und seien sie noch so evident – nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Das Konzept der sozialen Gerechtigkeit ist als Abschied von der hochdifferenzierten Adels-Gesellschaft des Mittelalters verständlich, hat aber ärgerliche Konsequenzen für den modernen Staat. Wir haben nämlich wieder eine Drei-Klassen-Gesellschaft und damit auch eine neue Plebs. Die arbeitet in der Produktion, die hat Pflichten. Wir haben eine neue Bourgeoisie, eine neue leisure-class. Die konsumiert. Die hat Rechte. Und wir haben einen neuen Adel, die Funktionäre. Die haben alles, die Macht. Dem Väterchen Stalin wird – wie man hört – in der ehemaligen Sowjetunion nachgetrauert, weil der die soziale Gerechtigkeit verwirklicht habe.
Alexander Schuller ist Soziologe, Publizist und Professor in Berlin. Er hatte Forschungsprofessuren in den USA (Princeton, Harvard) und ist Mitherausgeber von "Paragrana" (Akademie-Verlag). In seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen befasst er sich mit Fragen der Anthropologie und der Bildungs-, Medizin-, Geschichts- und Alltagssoziologie. Er arbeitet als Rundfunk-Autor sowie für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften wie "Merkur" und "Universitas".

Alexander Schuller© privat