Philip Kovce, 30, Ökonom und Philosoph, forscht am Basler Philosophicum und gehört dem Think Tank 30 des Club of Rome an. Er veröffentlichte gemeinsam mit Daniel Häni "Was würdest du arbeiten, wenn für dein Einkommen gesorgt wäre? Manifest zum Grundeinkommen" (2017) sowie "Was fehlt, wenn alles da ist? Warum das bedingungslose Grundeinkommen die richtigen Fragen stellt" (2015).
Ein Grundeinkommen wäre zeitgemäß
Der Ökonom Philip Kovce plädiert für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Es befördere nicht nur die Selbstbestimmung des Einzelnen, sondern es verbinde auch zwei sich widerstreitende Ideale: Gerechtigkeit und Freiheit.
Soziale Gerechtigkeit hat nur dann eine Zukunft, wenn sie ihre Vergangenheit kennt – und überwindet. Wer vor 100 Jahren soziale Gerechtigkeit sagte, der meinte damit zugleich: Klassenkampf. Die "soziale Frage", welche die Proletarier und die sie vertretenden Parteien umtrieb, wusste zwischen Freund und Feind eindeutig zu unterscheiden: Der Kapitalist war jenes böse, besitzende Ungeheuer, das seine Arbeiter ausbeutete und sich selbst für Arbeit zu schade war; und die Arbeiter waren jene entrechteten Individuen, die kaum mehr menschlich, sondern vielmehr wie Arbeitstiere oder gar Arbeitsmaterial behandelt wurden.
Soziale Gerechtigkeit sollte neu gedacht werden
Damit die Arbeiter nicht den Aufstand proben, heckte Reichskanzler Bismarck Ende des 19. Jahrhunderts schließlich eine Revolution von oben aus, indem er seine schützende, ja, nährende Hand über die zuvor einigermaßen rechtlosen Arbeiter hielt. Sozialversicherungen und Arbeitsschutzgesetze entstammen einer Zeit, in welcher der Staat soziale Gerechtigkeit vorantrieb, indem er der asozialen Ungerechtigkeit des freien Marktes entgegentrat.
Schnäppchenjäger befördern den Niedriglohnsektor
Die klare Trennung zwischen kapitalistischen Ausbeutern und ausgebeuteten Arbeitern ist inzwischen überholt – und alle Versuche, sie künstlich aufrechtzuerhalten, wirken hohl. Als Schnäppchenjäger sorgt der Arbeiter längst selbst für den Niedriglohn der anderen; der Manager, der die nächste Entlassungswelle vorantreibt, sägt immer auch an seinem eigenen Stuhl; gar nicht zu reden von Firmeneigentümern, die sich andauernd vom "Weltmarkt", den sie selbst befeuern, bedroht sehen. All diese "Klassen" treffen sich mittlerweile an der Supermarktkasse und unterscheiden sich vorwiegend nur noch darin, was und wieviel sie einkaufen, und ob sie danach mit den öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Zweitwagen nach Hause fahren.
Zeitalter des Individualismus braucht neue Ideen zur sozialen Gerechtigkeit
Während wir also gesellschaftlich immer "gleicher" geworden sind, so sind wir zugleich menschlich immer unterschiedlicher, immer individueller geworden. Anstelle klassenkämpferischer Umverteilungspolitik ist deshalb eine kleinkarierte Anerkennungspolitik getreten. Sie will es allen, die sich zu einer relevanten Minderheit zusammenfinden, irgendwie recht machen – und dadurch soziale Gerechtigkeit schaffen. Mehr schlecht als recht. Der Staat ist mit kleinkarierter Anerkennungspolitik dauerhaft ebenso überfordert wie mit großer Klassenkampffolklore. Vielmehr geht es im Zeitalter des Individualismus um neue Ideen, welche die Gesellschaft nicht spalten, sondern vereinen, und den Einzelnen nicht vereinnahmen, sondern befreien. Ein Beispiel dafür: das bedingungslose Grundeinkommen. Es sondert weder die Reichen als Oberschicht aus, noch beschämt es die Armen mit weiteren Almosen. Es gewährt allen das Existenzminimum unbedingt – nicht als Sonderrecht, sondern als Grundrecht.
Grundeinkommen würde mehr Gerechtigkeit und Freiheit ermöglichen
Auf diese Weise befördert das Grundeinkommen nicht nur die Selbstbestimmung des Einzelnen, sondern es verbindet auch zwei sich widerstreitende Ideale: Gerechtigkeit und Freiheit. Deren Zwist hat das 20. Jahrhundert geprägt. Und nun ist es höchste Zeit, dass wieder Frieden zwischen ihnen einkehrt. Das Grundeinkommen ermöglicht dies, indem es beides ist: sozial und liberal. Es ist liberal, weil es bedingungslos ist, und sozial, weil es für alle ist. Es ist für alle gleich – und es ermöglicht zugleich jedem, anders zu sein. So könnte soziale Gerechtigkeit künftig gelingen: indem sie sich mit ihrer Schwester, der Freiheit, versöhnt.