Soziale Kälte, soziale Wärme

Von Michael Rutschky |
Die Mutter, 25 Jahre alt, rief selber die Polizei. Damit sie ihren Bekannten - wie man in Berlin den Liebhaber nennt - zügle, der schon wieder ans Prügeln ging. Was die Beamten aber entdeckten: drei Kinder, sechs, drei und ein Jahre alt, und eine gründlich verwahrloste Wohnung; in der Küche lagen vergammelte Essensreste herum, an denen sich Fliegenschwärme labten, Schmutz und Unordnung ebenso im Kinderzimmer. Alles deutet darauf, dass die junge Frau unfähig ist, ihren mütterlichen Pflichten zu genügen.
Solche Meldungen häufen sich gerade (wenn sie nicht noch schlimmer ausfallen). Sie erwecken Mitleid ebenso wie Abscheu beim Empfänger - zuerst imaginiert er voller Schrecken die hilflos-ohnmächtigen Kinder, die ihre unfähige Mutter wie eine Naturkatastrophe beschädigt; dann dringt die Identifikation bis zu der jungen Frau selber vor, wie sie augenscheinlich mehr aus ihrer Vitalität nicht zu machen vermochte, als dreimal hintereinander Mutter zu werden, was ihre Lage unerträglich komplizierte, statt sie, worauf die Hoffnung ging, zu vereinfachen.

Möchte man mehr von dieser Geschichte wissen? Ehe man die Frage stellen kann, drängt sich eine viel weiter gehende Deutung dazwischen. Die unfähige junge Mutter mit ihren drei vernachlässigten Kindern in der verwahrlosten Wohnung, sie legt Zeugnis ab von der Kälte, die diese Gesellschaft durchherrscht. Dies ist kein individuelles Schicksal mit unverwechselbaren Personen, vielmehr eine exemplarische Geschichte. Schon dass der Vater der Kinder seine Pflichten vernachlässigt, belegt den fortschreitenden Verfall der Familie als Institution. Wo bleiben die Hilfsmaßnahmen ihrer Eltern? Längst sollten sie Tochter und Enkel in ein weiteres familiales Gewebe wieder eingebettet haben. Und die Nachbarn, auf deren Aufmerksamkeit und Zuarbeit man früher vertrauen konnte? Schließlich: die Obrigkeit, die uns angeblich mit einem Wohlfahrtsstaat umhüllt - der aber immer rücksichtsloser Sparmaßnahmen verfügt.

Allüberall macht sich in der Gesellschaft dieser Selbstvorwurf der sozialen Kälte hörbar. Jetzt, im Winter, bieten sich die Bettler und Obdachlosen an, die keine Bleibe haben; karitative Einrichtungen machen mit ihnen Reklame gegen die soziale Kälte. Aber man konnte den Selbstvorwurf auch gegen solche hochkomplexen Sachverhalte wie das Arbeitslosengeld II vernehmen, das den ruhmlosen Namen Hartz IV trägt; oder sogar die Massenarbeitslosigkeit selbst - das globalisierte Kapital, das die Menschheit ausbeutet, statt sie angemessen zu versorgen, aus ihm geht letztlich diese alles durchdringende Kälte hervor. Und die Obrigkeit, statt sie zu mildern, verstärkt die Kälte noch, zunehmend, seit Deregulierung das staatliche Handeln bestimmt und die Obrigkeit immer mehr Fürsorgepflichten aufgibt. Bald ähnelt der Staat aufs Haar jener überforderten Mutter in der verwahrlosten Wohnung.

Nun hat, wer mal mit der fürsorgenden Obrigkeit in Berührung kam, keine Wärmeerfahrungen zu erzählen. Wer sich arbeitslos melden muss, fühlt sich keineswegs väterlich eingehüllt von seinem Berater, und das ist auch gut so. Wer mal mit dem Jugend- oder dem Sozialamt zu tun hatte, begrüßt es sogar, wenn die Obrigkeit eine gewisse Distanz wahrt, statt wie die Feuerwehr die Wohnungstür einzubrechen bei Gefahr im Verzug. Bürokratien sind außerstande, Wärmeströme zu verteilen; schon die Räume, in denen sie residieren, Prunkbauten des Wilhelminismus oder Zweckbauten der Nachkriegszeit, reden eindeutig. Ihre wahrhaft erfolgreichen Maßnahmen - Schutzimpfungen für Schulkinder beispielsweise - verdanken sich fühlloser Kontrolle.

Nein, die Rede von der sozialen Kälte, die eine Zeit sozialer Wärme beschwört, unwiederbringlich vergangen, diese Rede gehört zu den vielen Veranstaltungen von Nostalgie, denen die Gesellschaft sich hingibt. Früher war alles besser. Da lebten wir in Großfamilien, wo Oma sich um die Enkel kümmerte, wenn Mutter noch zu jung und unruhig war, und Opa redete dem 28jährigen Vater, seinerseits noch voller Begierde, ins Gewissen. Früher, da dienten alle einem Herrn, der uns versorgte nach unseren Bedürfnissen und ein Machtwort sprach, wenn der unberechenbare Vetter mal wieder randalierte. Früher, da nährten uns die Gaben der Erde, und keines Menschen Herz verlangte es nach einem Slimline Design DVD-Player mit USB-Port und Kartenlesegerät MD 81 777.

Historiker und Soziologen mögen alle Beweise versammeln, dass es diese goldene Vergangenheit voller Wärme nie gab; Hungersnöte statt Gaben der Erde, Tyrannen statt großmütiger Herren, Einsamkeit statt der alles einhüllenden Großfamilie. Die Nostalgie ist eine Himmelsmacht. Unwiderstehlich macht sie die Vergangenheit leuchten wie Weihnachten. In die doch kein Weg zurückführt.

Michael Rutschky, geboren 1943 in Berlin, ist Schriftsteller und freier Publizist. Er arbeitet für Presse und Rundfunk. Buchveröffentlichungen u.a. "Die Meinungsfreude", "Unterwegs im Beitrittsgebiet", "Mit Dr. Siebert in Amerika" und "Berlin – die Stadt als Roman".