"Regulierung ist notwendig"
"Wir brauchen Regeln für den Markt", sagt der Wirtschaftswissenschaftler Nils Goldschmidt, "aber es sollten Regeln sein, die Freiräume eröffnen und nicht Freiheiten beschränken." Den von Union und SPD avisierten Mindestlohn kritisiert er als einen "sehr starken Eingriff", der zu Verwerfungen am Arbeitsmarkt führen werde.
Frank Meyer: Sie haben es gerade auch in unseren Nachrichten gehört, die Verhandlungen für die Große Koalition gehen in dieser Woche in die letzte, entscheidende Phase, bis Mitte der Woche sollen sie abgeschlossen sein. Auf einige Vorhaben hat man sich schon geeinigt, eine Mietpreisbremse soll eingeführt werden, der Mindestlohn soll kommen, genauso eine Frauenquote und die Finanztransaktionssteuer. Es gibt Kritik von links an diesen Projekten, weil das nur unzureichende Korrekturen seien, aber vor allem klagen die Wirtschaftsverbände über die geplanten staatlichen Regulierungen, damit wird die Freiheit zurückgedrängt, sagen sie. Haben sie Recht?
Das besprechen wir mit dem Wirtschaftswissenschaftler Professor Nils Goldschmidt von der Universität Siegen. Seien Sie willkommen, Herr Goldschmidt.
Nils Goldschmidt: Schönen guten Tag.
Meyer: Nehmen wir uns doch erst mal das Beispiel Frauenquote vor! Der Bundesverband der Deutschen Industrie sagt dazu, mit der Quote werde die Privatwirtschaft "einseitig zur Verwirklichung gesellschaftspolitischer Ziele in die Pflicht genommen und in ihrer unternehmerischen Freiheit eingeschränkt". Wie sehen Sie das denn?
Goldschmidt: Ich denke, es ist durchaus legitim, wenn die Politik, wenn die Wirtschaftspolitik Unternehmen, die Wirtschaft durchaus auch in die Pflicht nimmt mit Blick auf gesellschaftspolitische Ziele. Wirtschaftliches Handeln ist ja dafür da, dass eben bestimmte Ziele im Sinne der Gesellschaft erreicht werden sollen. Und in diesem Sinne, denke ich, ist es auch legitim, sich darüber zu einigen, eine bestimmte Frauenquote für börsennotierte Unternehmen zu haben. Man muss ja sehen: Keine Frauenquote schränkt auch ein. Wir haben ein Defizit, was das angeht, in großen Unternehmen, und ich denke, wenn aus der Unternehmerschaft selbst hier keine Initiative kommt, ist es legitim durchaus, hier politische Pflöcke einzuschlagen. Außerdem muss man sehen, für Unternehmer bietet das natürlich auch Chancen. Ich glaube, dass, wenn Unternehmen weiblicher werden, wir auch mehr Vielfalt in die Unternehmen bekommen und damit möglicherweise neue Ideen, neue Kreativität, die eben auch Vorteile am Markt mit sich bringen können.
"30 Prozent Frauenquote ist keine Revolution"
Meyer: Aber der freie Bürger, das ist ja das Zentralbild unserer Gesellschaftsvorstellung, das ist eben auch der freie Unternehmer. Muss der nicht im Prinzip die Freiheit haben, den oder die einzustellen, die er halt haben will? Es kann ja nur der Unternehmer beurteilen, wer für einen Job geeignet ist und wer nicht.
Goldschmidt: Durchaus. Aber wir haben das systematische Problem in unserer Gesellschaft, dass wir immer noch für Frauen nicht die gleichen Chancen bieten können. Und deswegen müssen wir miteinander abwägen einerseits das gesellschaftliche Ziel, Chancen für Frauen in gleicher Weise zu schaffen, andererseits die unternehmerische Freiheit aufrechtzuerhalten zu überlegen, wen er in sein Unternehmen mit integriert. Und diese Dinge müssen miteinander abgewogen werden. Ich denke, jetzt zu sagen 30 Prozent bei börsennotierten Unternehmen, ist keine Revolution, sondern ist ein Schritt, der durchaus vertretbar ist mit Blick eben auf spezifische gesellschaftspolitische Ziele. Es geht ja nicht darum zu sagen, der eine oder der andere, sondern man muss überlegen, wie kann man unternehmerisches Handeln, wirtschaftliche Freiheit in Einklang bringen mit gesellschaftspolitischen Überlegungen.
Meyer: Wie ist das beim Mindestlohn? Da gab es ja lange den Streit, soll der Staat den Mindestlohn festlegen oder festlegen, dass es überhaupt einen Mindestlohn gibt, oder sollen die Tarifparteien sich einigen? Wenn die Tarifparteien das tun würden, wäre das nicht mehr Freiheit, mehr Freiheit vom Staat?
Goldschmidt: Das sehe ich ähnlich wie Sie. Ich glaube, hier bin ich deutlich skeptischer als bei der Frauenquote. Hier haben wir einen sehr starken Eingriff in die Regulierung von Arbeitsmärkten, Märkten, die aus sich heraus funktionieren sollten. Wenn wir einen Mindestlohn einführen, den auch noch flächendeckend, dann werden wir sicherlich einige Verwerfungen am Arbeitsmarkt sehen, die keinem nützt, weder den Arbeitnehmern noch der Gesellschaft insgesamt. Sie müssen bedenken: Wenn wir schauen, wir haben 25 Prozent der Arbeitnehmer in Ostdeutschland, die momentan weniger verdienen als die 8,50 Euro, dass das zu großen Verwerfungen führen wird, wenn wir jetzt Mindestlöhne einführen, erscheint mir offensichtlich. Und ich glaube, hier hat man etwas fahrlässig gehandelt, um eine bestimmte Symbolpolitik zu betreiben. Es war eben für die SPD undenkbar, aus den Verhandlungen ohne Mindestlohn rauszugehen, ökonomisch sinnvoll erscheint mir das in keinster Weise. Und auch eben nicht nur ökonomisch sinnlos für die Unternehmen, sondern insbesondere auch für die gesamte Gesellschaft und auch für die Arbeitnehmer.
Meyer: Aber wenn wir zu unserer Grundfrage zurückkehren, nämlich der Frage, solche Regulierungen der Wirtschaft, sind die eigentlich zulässig, um gesellschaftspolitische Ziele zu verwirklichen? Was würden Sie sagen, sind sie grundsätzlich erlaubt, von Staats wegen die Wirtschaft so zu regulieren, dass gesellschaftspolitische Ziele umgesetzt werden?
Goldschmidt: Unbedingt. Ich glaube, das ist eine der Grundideen unserer sozialen Marktwirtschaft, dass es darum geht, Regeln zu schaffen, innerhalb dessen der Wettbewerb geordnet wird. Wettbewerb muss als Aufgabe verstanden werden, Märkte brauchen eine Ordnung. Und nochmals, das gilt nicht nur mit Blick auf die Gesellschaft, das gilt auch für die Märkte selbst. Märkte funktionieren nur, wenn wir vernünftige und solide politische Regeln haben, Beispiel Monopolkontrolle, Beispiel Korruptionsregeln und Ähnliches mehr, damit der Markt seine Funktion erfüllen kann, nämlich im Dienst der Bürgerinnen und Bürger gute ökonomische Ergebnisse, Wachstum und Wohlstand zu generieren. Das heißt, Regulierung ist notwendig, Regulierung ist sogar eine Voraussetzung für gutes marktwirtschaftliches Geschehen.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit dem Wirtschaftswissenschaftler Nils Goldschmidt von der Universität Siegen über die Frage Regulierung versus Freiheit in unserer Gesellschaft. Sie sagen jetzt so selbstverständlich, Herr Goldschmidt, Regulierung ist möglich, ist sogar angebracht, damit der Markt richtig funktioniert. Aber wir haben doch in den letzten Jahren immer gelernt, Regulierung ist eine linke Idee, ist eine sozialdemokratische Fantasie. Würden Sie denn sagen, das ist gar kein linkes Projekt, eine Regulierung unserer Marktwirtschaft?
Goldschmidt: Es ist die Frage, welche Art von Regulierung man im Blick hat. Was wir momentan zum Teil erleben, gerade von der Sozialdemokratie gefordert, ist Intervention, ist Hineingreifen in das Marktgeschehen, in der Hoffnung, dass, wenn man an den Marktkräften zerrt, wenn man an den Marktparteien zerrt, man zu besseren Ideen kommt. In der Grundidee der sozialen Marktwirtschaft war ein anderer Gedanke gegeben: Da ging es darum, Regelungen zu schaffen, die den Markt ordnen.
Man muss sich das vorstellen wie beim Fußballspiel, es geht darum, gute Spielregeln zu haben, aber innerhalb des Spiels dann Freiräume zu lassen. Dann muss die Kreativität kommen. Also, es ist klar, dass wir Spielregeln haben beim Fußball, dass ein Spiel 90 Minuten dauert, dass nur der Torwart den Ball in die Hand nehmen kann und Ähnliches mehr, aber welche Strategien dann die Spieler und die Mannschaften auf dem Platz haben, das bleibt ihnen überlassen. Und zu einem solchen Denken müssen wir aus meiner Sicht auch in der Wirtschaftspolitik in Deutschland, in einer Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft wieder zurückkommen: Wir brauchen Regeln für den Markt, aber es sollten Regeln sein, die Freiräume eröffnen und nicht Freiheiten beschränken beziehungsweise eingreifen, um nach außen hin scheinbare Erfolge verkünden zu können.
"Müssen eine qualitative Frage stellen"
Meyer: Diese Regulierungen wurden ja immer kritisiert in den letzten Jahren von liberaler Seite. Waren die dann – würden Sie sagen – neoliberal verblendet oder was würden Sie sagen zu dieser Kritik an eben dieser Regulierung?
Goldschmidt: Das Problem ist, dass sich in den letzten Jahren die Diskussion zu sehr beschränkt hat auf die Frage "Mehr oder weniger Regulierung?". Und ich glaube, die Frage ist falsch gestellt, auch von neoliberaler Seite falsch gestellt. Dort erscheint häufig ein Weniger als das Bessere. Es geht nicht darum zu sagen: mehr oder weniger, sondern genau zu fragen, was eigentlich tatsächlich die Konsequenzen sind. Das heißt, wir müssen eine qualitative Frage stellen.
Das Problem, glaube ich, ist viel grundsätzlicherer Natur: Wenn wir uns anschauen, was momentan in den Koalitionsverhandlungen läuft, dann ist das eine Diskussion um Einzelfragen. Es ist die Frage Mietpreisbremse, es ist die Frage Frauenquote, es sind Wohnungsbausubventionen und so weiter, und so weiter. Was nicht gefragt wird, ist, welche Idee, welches Konzept von sozialer Marktwirtschaft haben wir eigentlich und was wollen wir in den nächsten vier Jahren tatsächlich verwirklichen? Ich hätte mir gewünscht, dass sich die Große Koalition tatsächlich einmal Zeit nimmt und sagt, wir setzen uns einen Tag hin und überlegen, was sind eigentlich unsere Leitlinien für eine gute Wirtschaftspolitik, für eine gute soziale Marktwirtschaft. Was wir momentan erleben, ist nichts anderes als ein Kuhhandel. Hier werden Regulierungen miteinander getauscht, ein bisschen hier, ein bisschen weniger dort, und dann werden Kompromisse geschlossen. Was einem fehlt, ist sozusagen der Blick auf das Ganze.
Meyer: Aber ist nicht auch an diesen Teilregulierungen zumindest in Grundzügen so etwas zu sehen wie eine Bereitschaft, zu den Idealen der sozialen Marktwirtschaft, wie sie in der Bundesrepublik mal gepflegt worden sind in den 60er-, 70er-Jahren, dazu wieder zumindest teilweise zurückzukehren?
Goldschmidt: Man könnte die Hoffnung vielleicht haben. Zumindest, glaube ich, bestünde die Chance, weil eine Große Koalition tatsächlich auch die Möglichkeit hat, über die großen Fragen zu reden und diese großen Fragen anzugehen. Es wäre also möglich, eben nicht nur Kompromisse zu suchen, sondern eben zu überlegen, was könnte denn das Allgemeine und Grundlegende sein, auf das wir uns verständigen können, und von wo aus wir tatsächlich dann versuchen, einmal einen großen Entwurf für Positionen in der Zukunft zu haben.
Mich wundert immer, wir haben gerade erst vor Kurzem das neue Gutachten des Sachverständigenrates bekommen, wo genau versucht wird, natürlich wieder große Leitlinien zu sehen, die Kohärenz auch zwischen wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu verdeutlichen. Es spielt in diesen Verhandlungen keine Rolle. Und das ist doch eigentlich abstrus. Wir haben ein Gremium von der Politik bestellt, die wirtschaftspolitische Beratung machen, aber auf die wird gerade nicht gehört. Und das zeigt doch, wie wenig eigentlich sozusagen die Grundideen einer sozialen Marktwirtschaft, einer geordneten Marktwirtschaft, einer Marktwirtschaft, die als Aufgabe im Sinne der Bürgerinnen und Bürger verstanden wird, umgesetzt werden will, sondern es geht darum, eigene parteipolitische Positionen gut darzustellen und damit sozusagen, wie gesagt, Symbolpolitik zu betreiben für die eigene Klientel.
Meyer: Die Regulierungsprojekte der Großen Koalition und die Freiheit in Deutschland, darüber haben wir mit Professor Nils Goldschmidt von der Universität Siegen gesprochen. Herr Goldschmidt, herzlichen Dank für das Gespräch.
Goldschmidt: Ja, vielen Dank auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.