Mediennutzung
Ein neues Konzept empfiehlt "kritisches Ignorieren" als Mittel gegen den digitalen Stress. © Getty Images / iStockphoto / Liusia Voloshka
Mut zur Ignoranz
20:19 Minuten
Ein kurzer Blick aufs Smartphone – und schon ist man drin im Strudel der sozialen Medien. Oft passiert das unbewusst oder auch ungewollt. Ein neues Konzept empfiehlt "kritisches Ignorieren" als Mittel gegen den digitalen Stress.
Digitale Medien haben wie nie zuvor offengelegt, wie intuitiv das menschliche Gehirn funktioniert und wie leicht es gekapert werden kann. Doch eigentlich sind wir gut darin, uns auf Dinge zu fokussieren, schreibt der französische Soziologie Gérald Bronner in seinem Buch “Kognitive Apokalypse”.
Denn es gibt bestimmte Trigger, auf die wir Menschen aufgrund unserer steinzeitlichen Vergangenheit reagieren. Solche „Ereignisse“ können Wörter sein wie der eigene Name oder „Sex“.
Dazu gehören auch Sensationen oder Neuigkeiten, die eine Gefahr oder Warnung darstellen. Auf diesen Effekt, den Gérald Bronner „anthropologischen Imperativ” nennt, setzen soziale Medien: War diese Art von Wahrnehmung mal ein Selektionsvorteil, weil wir damit schnell reagieren konnten, löst sie im digitalen Raum Stress aus und wird zur Last.
Ignorieren als Mittel gegen den digitalen Stress
Digital Detox, ab und zu mal Pausen machen, ist eine mögliche Gegenstrategie. Inzwischen haben manche Apps wie Instagram oder Tiktok Timer integriert, über die die Nutzer ein Zeitlimit festlegen können. Einen anderen Vorschlag macht das Konzept „Kritisches Ignorieren als Kernkompetenz für digitale Bürger“. Dazu gehört, dass die Nutzer lernen zu selektieren.
Dieses Selektieren bedeutet heute etwas anderes als in früheren Zeiten, in denen wir uns in kleineren sozialen Gruppen aufgehalten haben. Die Wissenschaftlerin Anastasia Kozyreva vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat an dem Konzept „Kritisches Ignorieren” mitgearbeitet: „Es ist nicht mehr möglich, all dem, was da passiert, seine Aufmerksamkeit zu schenken. Hinzu kommt, dass die digitale Welt auf eine Art und Weise designt ist, dass der Wettbewerb um menschliche Aufmerksamkeit maximiert wird.“
Drei Strategien gegen Ablenkung
Der Ansatz „Kritisches Ignorieren“ schlägt deshalb vor, dass jeder Mensch selbst entscheidet, was er ignorieren möchte. Jeder soll selbst entscheiden, was für sein Leben wichtig ist – und was nicht.
Aber: „Natürlich gibt es bestimmte Arten von Informationen, die unsere Aufmerksamkeit weniger verdienen. Informationen, die falsch sind, verletzend sind oder uns ablenken. Diese sollten wir besser meiden.”
Das Konzept, das die Forscher entwickelt haben, um dieses kritische Ignorieren zu praktizieren, schlägt drei Vorgehensweisen vor. Die erste könnte man „Self-Nudging“ nennen: Dass man sich einen Rahmen setzt, um quantitativ weniger Informationen zu konsumieren.
Die zweite Strategie nennt sich „laterales Lesen“. Dieses „Seitwärts-Lesen“ wurde von Forschern der Stanford University entwickelt, zu ihnen gehört Sam Wineburg, er ist ebenfalls Autor des Artikels „Kritisches Ignorieren“. Beim lateralen Lesen handelt es sich um eine Art Quellencheck: Bevor man zum Beispiel einer Website seine Aufmerksamkeit schenkt, solle man über einen kurzen Check prüfen, ob es sich überhaupt lohnt, die Informationen dieser Seite zu konsumieren.
„Zum Beispiel, wenn du was kaufen willst und auf eine Website kommst, die du nie zuvor gesehen hast. Dann setzt du den Namen der Website in die Suchmaschine und sehr schnell wirst du die Wahrheit über die Quelle herausfinden. Das ist, kurz gesagt, die Strategie”, sagt Anastasia Kozyreva.
Fokussieren als „Lebenskompetenz“
Der dritte Teil der Strategie lautet: „Don‘t feed the trolls“. Also: sich nicht an Diskussionen beteiligen, die den Diskurs torpedieren oder Menschen beschädigen.
Anastasia Kozyreva meint, dass es im Grunde eine Lebenskompetenz ist, seine Aufmerksamkeit ausrichten zu können. Nicht nur wenn es um Informationen geht, sondern ganz generell, wenn man Dinge erreichen will.
„Diese Art von Lebenskompetenz ist etwas, das wir individuell und als Gesellschaft kultivieren sollten“, sagt Anastasia Kozyreva. „Wir können als Gesellschaft doch darüber nachdenken, welche Art von digitaler Informationsumgebung wir haben wollen. Und vielleicht können wir mit kleinen Änderungen in unserem eigenen Umfeld beginnen und damit zu größeren Veränderungen in unserer kollektiven Informationsumgebung beitragen.”
Die Vision vom globalen Dorf ist gescheitert
Ein anderer Ansatz ist das „Filtern“: Frank Rieger, Publizist und Sprecher des Chaos Computer Clubs plädiert in einem Blogpost “Für mehr und bessere Filterblasen”. Der Publizist und Sprecher des Chaos Computer Clubs sieht die Vision vom globalen Dorf als gescheitert. Denn es überfordere die Menschen: Weil es einfach auf Grund kultureller Unterschiede und sehr vieler unterschiedlicher Meinungen unmöglich ist, quasi alle in eine einheitliche Plattform-Welt bringen zu wollen.
„Diese Idee, dass man eines oder mehrere weltweite soziale Netzwerke baut, die für alle Nutzer und Nutzerinnen versuchen, gleichmäßig gut zu funktionieren, und man dabei aber halt der gesamten Welt ausgesetzt ist, führt dazu, dass Leute anfangen, aggressiv zu werden und sich daneben zu benehmen.“
Kuratierte Informationsströme
Darum, meint Frank Rieger, sind die großen sozialen Netzwerke nicht geeignet für die Bedürfnisse der meisten, die eher nur mit einer überschaubaren Zahl an Menschen kommunizieren wollen. „Wir sehen ja, dass Leute sich aus den großen sozialen Medien, also sprich Facebook und Twitter und so weiter verabschieden.”
Der Publizist Frank Rieger glaubt deshalb, dass es eine Zweiteilung geben wird: Dass wir globale Plattformen haben werden und daneben viele kleinere dezentrale Einheiten. Deshalb spricht er sich für mehr und bessere Filterblasen aus, wo man sorgfältig auswählt, mit wem man kommunizieren möchte, nach welchen Regeln, zu welchen Themen – also quasi ein kuratierter Informationsstrom.