Sozialer Aufstieg in die erste Liga
Seit der Weltmeisterschaft vor zwei Jahren erscheint Fußball vielen als vorbildhaftes Modell für die Integration von Migrantenkindern. Der Sportjournalist Michael Horeni setzt dieser naiven Sichtweise ein Buch entgegen, in dem er die konträren Lebensläufe der Brüder Boateng beleuchtet.
Am Anfang war der Käfig. Ein kleiner, umzäunter Bolzplatz im Berliner Stadtteil Wedding. Der Boden ist bretthart, und die Spielweise der Jungs, die hier kicken, ist es auch. In diesem Käfig haben zwei große Fußballkarrieren begonnen. Die Karrieren von Kevin und Jérôme Boateng. Der eine führt im Mittelfeld des AC Mailand Regie, der andere verteidigt für den FC Bayern.
Hier im Käfig hätte auch die Karriere von George beginnen können, dem ältesten der drei Boateng-Brüder. Aber daraus wurde nichts. Für George war der Käfig im Wedding kein Ort der Befreiung. Die Tricks, die er hier lernte, führten ihn nicht hinaus in die große Fußballwelt. Im Gegenteil. George Boateng geriert immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt. Nach einer Schlägerei saß er mal acht Monate in Moabit in Untersuchungshaft.
Michael Horeni gibt in seinem Buch "Die Brüder Boateng" diesem George Boateng viel Raum. Das ist eine kluge Entscheidung, denn dessen Lebensweg zeigt, dass ein überragendes sportliches Talent allein eben keine Garantie für sozialen Aufstieg ist.
Während der Weltmeisterschaft vor zwei Jahren ist der Fußball in der öffentlichen Diskussion romantisiert worden als gesellschaftliches Bindemittel. Die deutsche Nationalmannschaft stürmte mit jungen Spielern, die afrikanische, türkische oder polnische Wurzeln hatten, bis ins Halbfinale des Turniers und scheiterte erst am späteren Weltmeister Spanien. Fußball erschien vielen als vorbildhaftes Modell für die Integration von Migrantenkindern.
Horeni setzt dieser naiven Sichtweise nun ein Buch entgegen, das sich differenziert mit dem Thema Integration auseinandersetzt. Seine Rekonstruktion der Lebensläufe von George, Kevin und Jérôme Boateng offenbart, wie sehr Migrantenkinder noch immer stigmatisiert werden und wie schwer es für sie ist, sich von Etiketten wie "Ghetto-Kid" oder "Gangsta-Boy" zu lösen. Kevin und Jérôme Boateng haben Karriere gemacht - gegen viele Widerstände und nicht etwa, weil sie von Integrationsprogrammen oder ähnlichem profitiert hätten.
Horeni beschreibt die Brüder Boateng mit viel Sympathie, gleichwohl sieht er sie nicht nur als Opfer äußerer Umstände. Er gibt ihnen eine Mitschuld an den vielen kleinen und großen Problemen, die ihr Leben bis heute belasten.
George und Kevin Boateng wachsen im Wedding auf. Ihr Halbbruder Jérôme hat denselben Vater, den Ghanaer Prince Boateng, aber eine andere Mutter. Jérôme lebt im Stadtteil Wilmersdorf, er ist nur zu Gast auf dem rauen Bolzplatz, wo er seine Brüder zum Fußballspielen trifft. Abends kehrt er in das bürgerliche Wilmersdorf zurück. Einen Stadtteil, in dem es mehr Bioläden als Spielhallen gibt und wesentlich weniger Aggressivität und Kriminalität als im Wedding.
Im Käfig sind die Brüder Boateng die Könige. Kevin kann selbst mit Gummistiefeln am Fuß den Ball verzaubern. George ist körperlich stark und hat ein gutes Auge. Jérôme, der Jüngste, versucht Anschluss zu halten. Das härtet ihn ab, das stählt ihn, Jérôme ist Gleichaltrigen schon früh überlegen.
Der Käfig ist ein Schutzraum für die Boatengs. Hier wird nach ihren Regeln gespielt, hier genießen sie Anerkennung und Respekt. Doch die Welt draußen vor den Gitterstäben funktioniert anders. George hat dort die größten Schwierigkeiten. Horeni schreibt:
"Wenn George mit Jérôme und Kevin zusammen war, erholte er sich von seinem Leben. Es war, als lebe George zwei Leben: das eine als zorniger, verirrter Jugendlicher, der immer wieder hinlangt, wenn ihm jemand blöd kommt, und der immer wieder Ärger mit der Polizei hat. Und das andere als älterer Bruder, der sich verantwortungsvoll um Kevin und Jérôme kümmerte, der sich als Beschützer fühlt, und zu dem seine Brüder aufschauen."
Auch Kevin tut sich außerhalb des Käfigs schwer. In der Wilhelm-Hauff-Grundschule hängt er hinterher, dennoch ist die Schule ein wichtiger Ort für ihn. Klassenlehrer Wolfgang Bleimling ist eine Vertrauensperson für Kevin, eine Art Vaterersatz, nachdem Prince Boateng die Familie verlassen hatte.
Heute wird die Schule von 500 Kindern besucht, 90 Prozent von ihnen haben einen sogenannten "Migrationshintergrund". Grundschullehrer Bleimling sagt über Kevin:
"Er war höflich und respektvoll, zuvorkommend und hilfsbereit."
Diese Charakterisierung passt nicht zu dem Image, das Kevin Boateng bis heute in Deutschland anhaftet. Spätestens seit seinem Foul an Michael Ballack, das für den damaligen Kapitän der Nationalelf das Aus für die WM 2010 bedeutete, gilt Kevin Boateng als Rüpel, als Rambo. Und schon zuvor war er während seines Gastspiels bei Borussia Dortmund durch hartes Einsteigen auffällig geworden. Damals sagte der Fernsehkommentator Marcel Reif:
"Dieser Boateng ist nicht bekehrbar, nicht resozialisierbar, fußballerisch zumindest. Dieses Foul ist Körperverletzung, sonst nix."
Die pauschale Verurteilung trifft so nicht zu, das weist Horeni in seinem Psychogramm des jungen Kevin Boateng nach. Horeni beschreibt ihn als tief verunsicherten Spieler, der in Dortmund um einen neuen Vertrag kämpft, der Angst hat, verstoßen zu werden. Es ist kein Brutalo, der da um sich tritt. Es ist ein junger Mensch, der übermannt wird von seinen Gefühlen, der jedoch auch zu stolz und zu uneinsichtig ist, um sich helfen zu lassen.
Horenis Buch hat seine Stärken in der empathischen Beschreibung der drei Boateng-Brüder. Schwächen hat es in stilistischer Hinsicht. Es enthält Redundanzen, die ein sorgfältiges Lektorat hätte beseitigen können.
Gleich im ersten Kapitel stolpert man über eine Dopplung:
"Der Käfig, das spürten sie, machte sie wirklich zu Brüdern … "
… heißt es dort zu Seitenanfang. Drei Absätze weiter liest man:
"Im Käfig spürten George, Kevin und Jérôme wie nirgendwo sonst, dass sie Brüder sind."
Später lässt Horeni den Vater Prince Boateng gleich drei Mal nacheinander nahezu wortgleich sagen, dass es für ihn wichtig gewesen sei, sich als Schwarzer zu akzeptieren. Redundant sind auch viele Zitate; oftmals bündeln sie nur in direkter Rede das, was zuvor schon im redaktionellen Text zum Ausdruck gebracht wurde.
Zu formalen Mängeln kommen sachliche Fehler, die den Gesamteindruck trüben. Zum Beispiel "dümpelte" Hertha BSC Ende der 90-Jahre nicht …
"… irgendwo in der zweiten Bundesliga …"
… herum, wie Horeni behauptet, sondern hielt sich ab der Saison 1997/98 für insgesamt 13 Spielzeiten in der ersten Liga.
Das sind einige der Fehler, die zu korrigieren wären in einer zweiten Auflage. Diese wird das Buch mit Sicherheit erleben, denn das Thema Integration bleibt aktuell in Deutschland - und die Boateng-Brüder sind noch lange nicht am Karriereende angekommen.
Michael Horeni: Die Brüder Boateng. Drei deutsche Karrieren.
Tropen (bei Klett-Cotta)
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Hier im Käfig hätte auch die Karriere von George beginnen können, dem ältesten der drei Boateng-Brüder. Aber daraus wurde nichts. Für George war der Käfig im Wedding kein Ort der Befreiung. Die Tricks, die er hier lernte, führten ihn nicht hinaus in die große Fußballwelt. Im Gegenteil. George Boateng geriert immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt. Nach einer Schlägerei saß er mal acht Monate in Moabit in Untersuchungshaft.
Michael Horeni gibt in seinem Buch "Die Brüder Boateng" diesem George Boateng viel Raum. Das ist eine kluge Entscheidung, denn dessen Lebensweg zeigt, dass ein überragendes sportliches Talent allein eben keine Garantie für sozialen Aufstieg ist.
Während der Weltmeisterschaft vor zwei Jahren ist der Fußball in der öffentlichen Diskussion romantisiert worden als gesellschaftliches Bindemittel. Die deutsche Nationalmannschaft stürmte mit jungen Spielern, die afrikanische, türkische oder polnische Wurzeln hatten, bis ins Halbfinale des Turniers und scheiterte erst am späteren Weltmeister Spanien. Fußball erschien vielen als vorbildhaftes Modell für die Integration von Migrantenkindern.
Horeni setzt dieser naiven Sichtweise nun ein Buch entgegen, das sich differenziert mit dem Thema Integration auseinandersetzt. Seine Rekonstruktion der Lebensläufe von George, Kevin und Jérôme Boateng offenbart, wie sehr Migrantenkinder noch immer stigmatisiert werden und wie schwer es für sie ist, sich von Etiketten wie "Ghetto-Kid" oder "Gangsta-Boy" zu lösen. Kevin und Jérôme Boateng haben Karriere gemacht - gegen viele Widerstände und nicht etwa, weil sie von Integrationsprogrammen oder ähnlichem profitiert hätten.
Horeni beschreibt die Brüder Boateng mit viel Sympathie, gleichwohl sieht er sie nicht nur als Opfer äußerer Umstände. Er gibt ihnen eine Mitschuld an den vielen kleinen und großen Problemen, die ihr Leben bis heute belasten.
George und Kevin Boateng wachsen im Wedding auf. Ihr Halbbruder Jérôme hat denselben Vater, den Ghanaer Prince Boateng, aber eine andere Mutter. Jérôme lebt im Stadtteil Wilmersdorf, er ist nur zu Gast auf dem rauen Bolzplatz, wo er seine Brüder zum Fußballspielen trifft. Abends kehrt er in das bürgerliche Wilmersdorf zurück. Einen Stadtteil, in dem es mehr Bioläden als Spielhallen gibt und wesentlich weniger Aggressivität und Kriminalität als im Wedding.
Im Käfig sind die Brüder Boateng die Könige. Kevin kann selbst mit Gummistiefeln am Fuß den Ball verzaubern. George ist körperlich stark und hat ein gutes Auge. Jérôme, der Jüngste, versucht Anschluss zu halten. Das härtet ihn ab, das stählt ihn, Jérôme ist Gleichaltrigen schon früh überlegen.
Der Käfig ist ein Schutzraum für die Boatengs. Hier wird nach ihren Regeln gespielt, hier genießen sie Anerkennung und Respekt. Doch die Welt draußen vor den Gitterstäben funktioniert anders. George hat dort die größten Schwierigkeiten. Horeni schreibt:
"Wenn George mit Jérôme und Kevin zusammen war, erholte er sich von seinem Leben. Es war, als lebe George zwei Leben: das eine als zorniger, verirrter Jugendlicher, der immer wieder hinlangt, wenn ihm jemand blöd kommt, und der immer wieder Ärger mit der Polizei hat. Und das andere als älterer Bruder, der sich verantwortungsvoll um Kevin und Jérôme kümmerte, der sich als Beschützer fühlt, und zu dem seine Brüder aufschauen."
Auch Kevin tut sich außerhalb des Käfigs schwer. In der Wilhelm-Hauff-Grundschule hängt er hinterher, dennoch ist die Schule ein wichtiger Ort für ihn. Klassenlehrer Wolfgang Bleimling ist eine Vertrauensperson für Kevin, eine Art Vaterersatz, nachdem Prince Boateng die Familie verlassen hatte.
Heute wird die Schule von 500 Kindern besucht, 90 Prozent von ihnen haben einen sogenannten "Migrationshintergrund". Grundschullehrer Bleimling sagt über Kevin:
"Er war höflich und respektvoll, zuvorkommend und hilfsbereit."
Diese Charakterisierung passt nicht zu dem Image, das Kevin Boateng bis heute in Deutschland anhaftet. Spätestens seit seinem Foul an Michael Ballack, das für den damaligen Kapitän der Nationalelf das Aus für die WM 2010 bedeutete, gilt Kevin Boateng als Rüpel, als Rambo. Und schon zuvor war er während seines Gastspiels bei Borussia Dortmund durch hartes Einsteigen auffällig geworden. Damals sagte der Fernsehkommentator Marcel Reif:
"Dieser Boateng ist nicht bekehrbar, nicht resozialisierbar, fußballerisch zumindest. Dieses Foul ist Körperverletzung, sonst nix."
Die pauschale Verurteilung trifft so nicht zu, das weist Horeni in seinem Psychogramm des jungen Kevin Boateng nach. Horeni beschreibt ihn als tief verunsicherten Spieler, der in Dortmund um einen neuen Vertrag kämpft, der Angst hat, verstoßen zu werden. Es ist kein Brutalo, der da um sich tritt. Es ist ein junger Mensch, der übermannt wird von seinen Gefühlen, der jedoch auch zu stolz und zu uneinsichtig ist, um sich helfen zu lassen.
Horenis Buch hat seine Stärken in der empathischen Beschreibung der drei Boateng-Brüder. Schwächen hat es in stilistischer Hinsicht. Es enthält Redundanzen, die ein sorgfältiges Lektorat hätte beseitigen können.
Gleich im ersten Kapitel stolpert man über eine Dopplung:
"Der Käfig, das spürten sie, machte sie wirklich zu Brüdern … "
… heißt es dort zu Seitenanfang. Drei Absätze weiter liest man:
"Im Käfig spürten George, Kevin und Jérôme wie nirgendwo sonst, dass sie Brüder sind."
Später lässt Horeni den Vater Prince Boateng gleich drei Mal nacheinander nahezu wortgleich sagen, dass es für ihn wichtig gewesen sei, sich als Schwarzer zu akzeptieren. Redundant sind auch viele Zitate; oftmals bündeln sie nur in direkter Rede das, was zuvor schon im redaktionellen Text zum Ausdruck gebracht wurde.
Zu formalen Mängeln kommen sachliche Fehler, die den Gesamteindruck trüben. Zum Beispiel "dümpelte" Hertha BSC Ende der 90-Jahre nicht …
"… irgendwo in der zweiten Bundesliga …"
… herum, wie Horeni behauptet, sondern hielt sich ab der Saison 1997/98 für insgesamt 13 Spielzeiten in der ersten Liga.
Das sind einige der Fehler, die zu korrigieren wären in einer zweiten Auflage. Diese wird das Buch mit Sicherheit erleben, denn das Thema Integration bleibt aktuell in Deutschland - und die Boateng-Brüder sind noch lange nicht am Karriereende angekommen.
Michael Horeni: Die Brüder Boateng. Drei deutsche Karrieren.
Tropen (bei Klett-Cotta)
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