Sozialer Pflichtdienst für junge Menschen

Über gesellschaftliche Arbeit anders nachdenken

08:11 Minuten
Ein junger Mann schiebt einen Rollstuhl mit einem Mann darauf in einen Transporter
Viele Jugendliche engagierten sich bereits gesellschaftlich, sagt Barbara Thiessen. Auszeiten für soziale Tätigkeiten sollten statt eines Pflichtjahrs über mehrere Jahre verteilt werden können. © picture alliance / dpa
Barbara Thiessen im Gespräch mit Marietta Schwarz |
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Statt über ein soziales Pflichtjahr zu debattieren, sollte vielmehr grundsätzlich über die Arbeit in unserer Gesellschaft nachgedacht werden, meint die Sozialpädagogin Barbara Thiessen. Sie favorisiert das Modell eines europäischen Nachbarn.
Bundespräsident Steinmeier hat am Wochenende eine Debatte um einen sozialen Pflichtdienst angestoßen. So ein Dienst helfe „aus der eigenen Blase“ herauszukommen, andere Menschen zu treffen – und stärke die Gemeinschaft.
Doch diese Botschaft des Bundespräsidenten erwecke unterschwellig den Eindruck, dass sich derzeit zu wenige Menschen für die Gesellschaft engagierten und insbesondere Jugendliche nur mit sich beschäftigt seien, kritisiert die Sozialpädagogin Barbara Thiessen. Sie ist Professorin für Soziale Arbeit und Gender Studies an der Hochschule Landshut.

Junge Menschen sind bereits engagiert

Viele Untersuchungen belegten das Gegenteil, so Thiessen: Bis zu zwei Drittel der Jugendlichen und jungen Erwachsenen seien gesellschaftlich engagiert. Zudem sei es falsch, dass sich soziale Arbeit für Pflichtarbeit in besonderer Weise eigne: Hier werde die hohe Anforderung an fachliche Kenntnisse und Fähigkeiten unterschätzt.
„Das ärgert mich als eine, die sich für die Anerkennung von sozialer Arbeit, Hauswirtschaft, Gesundheit und Erziehungsberufe einsetzt, dass so immer wieder so eine Trivialisierung stattfindet“, unterstreicht Thiessen.
Ein Pflichtjahr berge das Problem, dass unberücksichtigt bliebe, dass viele Menschen schon soziale und Care-Arbeit leisten, so Thiessen: etwa in der Familie für erkrankte Elternteile, für Geschwister mit Behinderungen oder durch die Versorgung der eigenen Kinder.

Gestaltung der Arbeit mit Auszeit

Statt eines sozialen Pflichtjahrs sollte grundsätzlich über eine andere Gestaltung von Arbeit in unserer Gesellschaft nachgedacht werden, meint Thiessen. Sie unterstützt daher ein Optionszeitenmodell der Soziologin Karin Jurczyk, bei dem Erwerbsarbeit unterbrochen wird und Zeiten für soziales Engagement flexibel im Laufe des Lebens genommen werden – ein Modell mit „atmenden Lebensläufen“.

Die Idee ist, dass alle, die in die Erwerbsarbeit einsteigen, ein Konto von neun Jahren haben, das sie ungefähr sechs Jahre für Care und Engagement nutzen können, zwei Jahre für Weiterbildung und ein Jahr für Selfcare – also für eine selbstbestimmte Auszeit.

Barbara Thiessen, Professorin für Soziale Arbeit

Jeder Arbeitgeber wüsste dann, dass alle Mitarbeiter irgendwann für eine bestimmte Zeit aussteigen würden, so Thiessen, das wäre dann der Normalfall. In Frankreich existiere dieses Modell schon in der Praxis: ein Konto der persönlichen Aktivität, das man auch mitnimmt, wenn man den Arbeitgeber wechselt.

Gerechtere Bewertung sozialer Arbeit

Das Optionszeitenmodell könnte ihrer Ansicht nach noch ergänzt werden, indem das soziale Engagement in die Berechnung der Rente miteinbezogen würde, erklärt Thiessen:
„Das heißt, wenn ich nur Erwerbsarbeit leiste und keine Carearbeit in der Familie oder in der Nachbarschaft, dann komme ich nicht auf die höchste Anzahl der Rentenpunkte.“
Frauen leisteten derzeit ein Drittel bezahlte Arbeit und zwei Drittel unbezahlte Arbeit, vor allem als Care-Arbeit in der eigenen Familie, sagt Barbara Thiessen. Das Optionszeitmodell würde dies berücksichtigen und dazu führen, den Gender Pay-Gap, also die schlechtere Bezahlung von Frauen im Vergleich zu Männern, und die daraus resultierende Rentenungleichheit zu verringern.
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