Sozialer Wohnungsbau statt Favelas
In der brasilianischen Metropole Sao Paolo lebt ein Drittel der Einwohner in Favelas, in Slums. Die Schweizer Stadtplanerin Fabienne Hoelzel will die Elendsviertel legal an Straßen, Strom und Wasser anschließen - und erdrutschgefährdete Häuser abreissen lassen. Doch nicht alle Slum-Bewohner sind begeistert.
Susanne Führer: Heute beginnen die 15. Eschborner Fachtage, veranstaltet von der GIZ, der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit. Thema in diesem Jahr: Transformation gestalten, die Stadt als globaler Akteur. Eine Teilnehmerin der Fachtage hat bei dieser Gestaltung schon reichlich Erfahrung gesammelt. Fabienne Hoelzel ist gelernte Architektin und Stadtplanerin aus der Schweiz. Seit drei Jahren lebt sie in Sao Paulo und ist dort am sogenannten Slum-Upgrading beteiligt. Guten Morgen, Frau Hoelzel!
Fabienne Hoelzel: Guten Morgen!
Führer: Was ist denn das, dieses Slum-Upgrading, genau?
Hoelzel: Slum-Upgrading hat in Sao Paulo zwei Schwerpunkte. Ein Schwerpunkt ist, dass wir die nicht vorhandene Stadtstruktur, sprich Straßen, Strom, Wasser, Abwasser in die Favelas bringen, weil die Häuser und die Quartiere haben ja die Leute selber gebaut. Und der andere Fokus des Programms sind die sogenannten Risikogebiete. Das sind steile Hänge, Flüsse. Viele Favelas sind direkt an Flussufern oder direkt über dem Fluss sogar. Und da gibt es natürlich Vorschriften, wie viele Meter dann frei bleiben müssen wegen Flutgefahr. Brasilien ist ja ein tropisches Land, das heißt, es regnet sehr viel im Sommer und dann rutschen diese Hänge ab, respektive die Flüsse treten über die Ufer. Und das heißt, pro Favela, die in so ein Slum-Upgrading-Programm reinkommt, müssen wir 10 bis 15 Prozent der Leute umsiedeln, wie wir das nennen. Und das heißt, für die müssen wir Ersatzwohnbauten zur Verfügung stellen, Sozialwohnungsbau. Das sind die beiden Fokusse, eigentlich.
Führer: Frau Hoelzel, Sie haben am Anfang gesagt, Sie bringen da also Strom, Abwasser und Wasser hin, und das klingt so leicht. Also noch mal zur Erinnerung, Sao Paulo hat elf Millionen Einwohner, 30 Prozent, habe ich gelesen, leben in Favelas. Wie kann denn da eine Stadtbehörde wirklich wirksam arbeiten, wie schaffen Sie das?
Hoelzel: Ja, das ist eine gute Frage. Wir geben 40 Prozent, vier Prozent aus vom Budget, vom gesamten städtischen Budget geben wir aus für das Slum-Upgrading. Aber 30 Prozent der Menschen sind von diesen misslichen Umständen betroffen. Das heißt, wir machen Fehler, wir machen natürlich viel zu wenig. Effizient kann es nur bedingt sein, weil rein technisch die Straßen sind sehr eng natürlich, und wenn wir da mit den Maschinen reinfahren, wenn wir überhaupt reinkommen, dürfen wir nicht zu tief graben, weil sonst die Häuser anfangen, abzurutschen. Es ist schon ein bisschen vergleichbar manchmal mit der Hirnchirurgie mit Salatgabeln. Also sehr feine, delikate Strukturen und dann diese groben Maschinen, die natürlich nicht für solche Umstände erfunden worden sind, das ist ja klar.
Führer: Wie werden denn diese Neuerungen von den Bewohnern der Favelas angenommen. Also ich - einerseits ist das natürlich jetzt ein Luxus im Vergleich zu vorher, aber man muss ja wahrscheinlich jetzt bezahlen für Strom und Wasser, man muss das Netz unterhalten und pflegen?
Hoelzel: Ja, so ist es. Nicht alle sehen ein, ich hab jetzt jahrzehntelang nichts bezahlt, warum soll ich jetzt plötzlich bezahlen. Vor allem, weil die haben ja vorher schon Wasser und Strom einfach illegal. Also das ist halt dann die Zuständigkeit unserer Sozialarbeiterinnen. Es gibt vorher ein Sozialprogramm und nachher, wo die Leute vorbereitet werden und dann auch nachher noch betreut werden. Das muss man ihnen einfach beibringen, dass das halt so ist, dass man für solche allgemeine Leistungen, die die Stadt zur Verfügung stellt, eigentlich dafür bezahlen müsste. Dass es vorher sozusagen nicht korrekt gelaufen ist. Und was den Sozialwohnungsbau anbelangt, das ist halt unterschiedlich. Ich würde sagen, jede zweite Familie findet es super, und jede zweite Familie findet es nicht so toll, aber dann sind wir auch flexibel. Wir können ja niemanden zwingen, von Gesetzes wegen nicht. Auch aus den Risikogebieten, da haben wir eine gesetzliche Handhabe, dass wir die Leute umsiedeln können, aber auch da können wir niemanden zwingen, in eine Sozialwohnung umzuziehen. Wenn jemand sagt, ich will nicht, dann kriegt er einfach Geld. Was wir nicht so gern haben logischerweise, weil das Problem verlagert sich dann einfach. Der geht dann in eine andere Favela, kauft sich da ein Haus. Aber die Leute haben die Wahl.
Führer: Die Stadtplanerin Fabienne Hoelzel im Deutschlandradio Kultur, wir sprechen über ihre Erfahrungen in Sao Paulo mit dem Slum-Upgrading. Frau Hoelzel, Sie haben es gerade gesagt, also viele finden das schon auch gut, auch wenn sie vorher nun auch schon Strom und Wasser hatten. Ich hab gelesen, Sao Paulo sei eine gespaltene Stadt, wie überhaupt die brasilianische Gesellschaft, also es gibt - es ist eine der reichsten Städte, auch eine der teuersten Städte und zugleich eine der ärmsten. Also es gibt diese tiefe soziale Kluft. Ist es jetzt nicht so, wenn Sie diese Favelas jetzt so aufwerten, zementiert man nicht dadurch diese Spaltung eigentlich noch mehr?
Hoelzel: Das ist auch ein ganz wichtiger Punkt, den wir nicht wirklich gelöst haben. Das Programm ist auch relativ jung, also wir müssen da wahrscheinlich in 30 Jahren noch einmal unterhalten, wie das jetzt genau, was wie wo schiefgelaufen ist und was nicht. Aber in der Tat, ich glaube, das Werk hat bewiesen, in Anführungszeichen, dass es uns gelingt, die Favelas in Quartiere umzuwandeln mit einer angemessenen Lebensqualität. Aber die Stadt benutzt die Favelas nicht, die Favelas hingegen benutzen die Stadt. Also die Integration in eine Richtung, die funktioniert, aber in die andere Richtung nicht. Und das ist so, weil die Stadt nicht als Problem verstanden wird, sondern die Favelas werden als Problem verstanden. Und das ist natürlich, das ist eine allgemeine Denkweise, die fast alle haben, auch wir, die wir damit arbeiten. Und das ist ein falscher Denkansatz, natürlich.
Führer: Das zielt dann ja wirklich in Richtung Stadtplanung. Die hat in Europa ja eine lange Tradition, das sehen wir ja an den Städten. Wie ist das in Brasilien?
Hoelzel: Ja, leider überhaupt nicht. Also Städtebau, Stadtplanung, das ist irgendwann in den 50er-Jahren ist das mal gestorben sozusagen, wird auch an den Unis leider überhaupt nicht mehr gelehrt, und das merkt man natürlich. Es gibt zwar eine sehr effiziente Infrastrukturplanung in Sao Paulo, also Autobahnen, Flughäfen, die ganz großen Infrastrukturen, die werden sehr gut und auch, wie soll ich sagen, relativ radikal dann implementiert. Aber was wir hier Quartiersplanung nennen oder Quartiersentwicklung, so was gibt es nicht.
Führer: Aus europäischer Sicht ist Sao Paulo ja, na sagen wir mal doch eine Stadt, in der schwer zu leben ist. Es gibt wenig Grün, es gibt keinen Zugang zum Meer, die Flüsse sind verschmutzt, es gibt sehr viel Smog. Entwickelt die Behörde, für die Sie arbeiten, vielleicht auch so etwas wie ein ökologisches Konzept oder ist so etwas noch gar nicht in?
Hoelzel: Das ist auf jeden Fall ein Thema, weil, Sie haben es angesprochen, die Lebensqualität ist nicht sehr hoch. Und das müsste auch, meiner Meinung nach, der Ansatzpunkt sein. Nicht, dass ich gegen Ökologie wäre, aber in einem Land oder in einer Stadt, wo sehr viele Leute damit beschäftigt sind, wie kriege ich genug Essen auf den Tisch für morgen, dann mit ökologischen Themen zu kommen, ist ein bisschen, sozial ein bisschen schwer verträglich. Wenn man es aber anfängt über die Lebensqualität oder was wir jetzt versuchen, mein kleines Team, das Stadtplanungsteam, dass wir es auch versuchen, über die Ökonomie abzuwickeln. Zu sagen, wir können so auch Arbeitsplätze schaffen, indem wir ökologische Programme entwickeln, Agrikultur, Bed and Breakfast, was weiß ich - können wir erstens so die Stadt so integrieren über diese Programme und wir können zugleich Arbeitsplätze schaffen. Wir nennen das so zum Beispiel Economy through Ecology für einen unserer Pläne, den wir entwickelt haben.
Führer: Frau Hoelzel, jetzt treten Sie bei den Eschborner Fachtagen auf. Da geht es ja auch um die voranschreitende Verstädterung weltweit. Also man rechnet damit, dass in wenigen Jahrzehnten 70 Prozent der Menschen in den Städten leben werden. Da gibt es eine ganze Reihe von Experten, ein paar hundert. Sie treten auch auf. Was können Sie, was können denn andere Länder und Städte von Ihren Erfahrungen in Sao Paulo lernen, was meinen Sie?
Hoelzel: Ja, Brasilien hat sich natürlich, jetzt unabhängig von diesen Slum-Upgrading-Programmen Sao Paulos sehr positiv entwickelt. Die Ökonomie, die Wirtschaftskraft ist sehr stark. Brasilien hat gerade das Vereinigte Königreich abgelöst vom fünften Platz. Also die ökonomische Situation ist sehr, sehr gut. Das Land an sich steht einfach sehr gut da. Es ist ja auch kein Entwicklungsland mehr, so weit ich orientiert bin, leistet Deutschland auch keine Entwicklungshilfe mehr. Deswegen: Die Favelas sind konsolidiert. Die große Informalisierungsphase war in den 70er-, 80er-Jahren. Sao Paulo wächst auch nicht mehr so stark. Ich meine, es sind immer noch drei, vier Prozent, das ist auf elf Millionen oder 20 Millionen im Metropolitanraum, das sind dann immer noch ein paar Hunderttausend, aber es explodiert nicht mehr so wie jetzt afrikanische Städte. Das Land an sich ist zu 88 Prozent urbanisiert. Das ist gelaufen eigentlich. Wohingegen Afrika diesen Urbanisierungsprozess erst noch vor sich hat. Und weil das eben alles schon gelaufen und konsolidiert ist in Sao Paulo oder in Brasilien, haben wir natürlich andere Möglichkeiten, einzugreifen. Sei es über ein sogenanntes Slum-Upgrading, sei es über Stadtplanung, die Stadt ist jetzt da. Ich sag es mal ein bisschen plump, die Stadt ist da, jetzt können wir anfangen, damit zu arbeiten. Jetzt können wir anfangen, aufzuräumen sozusagen. Und das beschreibt relativ gut, glaube ich, den jetzigen Zustand, eigentlich.
Führer: Das sagt die Stadtplanerin Fabienne Hoelzel, sie arbeitet in Sao Paulo im Programm Slum-Upgrading. Und ich danke Ihnen für das Gespräch, Frau Hoelzel.
Hoelzel: Ich danke auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Link auf dradio.de:
"Vertrauen der Bevölkerung wiedergewinnen" - Ein Soziologe und der Polizeichef von Rio de Janeiro über das Projekt "Friedenspolizei"
Fabienne Hoelzel: Guten Morgen!
Führer: Was ist denn das, dieses Slum-Upgrading, genau?
Hoelzel: Slum-Upgrading hat in Sao Paulo zwei Schwerpunkte. Ein Schwerpunkt ist, dass wir die nicht vorhandene Stadtstruktur, sprich Straßen, Strom, Wasser, Abwasser in die Favelas bringen, weil die Häuser und die Quartiere haben ja die Leute selber gebaut. Und der andere Fokus des Programms sind die sogenannten Risikogebiete. Das sind steile Hänge, Flüsse. Viele Favelas sind direkt an Flussufern oder direkt über dem Fluss sogar. Und da gibt es natürlich Vorschriften, wie viele Meter dann frei bleiben müssen wegen Flutgefahr. Brasilien ist ja ein tropisches Land, das heißt, es regnet sehr viel im Sommer und dann rutschen diese Hänge ab, respektive die Flüsse treten über die Ufer. Und das heißt, pro Favela, die in so ein Slum-Upgrading-Programm reinkommt, müssen wir 10 bis 15 Prozent der Leute umsiedeln, wie wir das nennen. Und das heißt, für die müssen wir Ersatzwohnbauten zur Verfügung stellen, Sozialwohnungsbau. Das sind die beiden Fokusse, eigentlich.
Führer: Frau Hoelzel, Sie haben am Anfang gesagt, Sie bringen da also Strom, Abwasser und Wasser hin, und das klingt so leicht. Also noch mal zur Erinnerung, Sao Paulo hat elf Millionen Einwohner, 30 Prozent, habe ich gelesen, leben in Favelas. Wie kann denn da eine Stadtbehörde wirklich wirksam arbeiten, wie schaffen Sie das?
Hoelzel: Ja, das ist eine gute Frage. Wir geben 40 Prozent, vier Prozent aus vom Budget, vom gesamten städtischen Budget geben wir aus für das Slum-Upgrading. Aber 30 Prozent der Menschen sind von diesen misslichen Umständen betroffen. Das heißt, wir machen Fehler, wir machen natürlich viel zu wenig. Effizient kann es nur bedingt sein, weil rein technisch die Straßen sind sehr eng natürlich, und wenn wir da mit den Maschinen reinfahren, wenn wir überhaupt reinkommen, dürfen wir nicht zu tief graben, weil sonst die Häuser anfangen, abzurutschen. Es ist schon ein bisschen vergleichbar manchmal mit der Hirnchirurgie mit Salatgabeln. Also sehr feine, delikate Strukturen und dann diese groben Maschinen, die natürlich nicht für solche Umstände erfunden worden sind, das ist ja klar.
Führer: Wie werden denn diese Neuerungen von den Bewohnern der Favelas angenommen. Also ich - einerseits ist das natürlich jetzt ein Luxus im Vergleich zu vorher, aber man muss ja wahrscheinlich jetzt bezahlen für Strom und Wasser, man muss das Netz unterhalten und pflegen?
Hoelzel: Ja, so ist es. Nicht alle sehen ein, ich hab jetzt jahrzehntelang nichts bezahlt, warum soll ich jetzt plötzlich bezahlen. Vor allem, weil die haben ja vorher schon Wasser und Strom einfach illegal. Also das ist halt dann die Zuständigkeit unserer Sozialarbeiterinnen. Es gibt vorher ein Sozialprogramm und nachher, wo die Leute vorbereitet werden und dann auch nachher noch betreut werden. Das muss man ihnen einfach beibringen, dass das halt so ist, dass man für solche allgemeine Leistungen, die die Stadt zur Verfügung stellt, eigentlich dafür bezahlen müsste. Dass es vorher sozusagen nicht korrekt gelaufen ist. Und was den Sozialwohnungsbau anbelangt, das ist halt unterschiedlich. Ich würde sagen, jede zweite Familie findet es super, und jede zweite Familie findet es nicht so toll, aber dann sind wir auch flexibel. Wir können ja niemanden zwingen, von Gesetzes wegen nicht. Auch aus den Risikogebieten, da haben wir eine gesetzliche Handhabe, dass wir die Leute umsiedeln können, aber auch da können wir niemanden zwingen, in eine Sozialwohnung umzuziehen. Wenn jemand sagt, ich will nicht, dann kriegt er einfach Geld. Was wir nicht so gern haben logischerweise, weil das Problem verlagert sich dann einfach. Der geht dann in eine andere Favela, kauft sich da ein Haus. Aber die Leute haben die Wahl.
Führer: Die Stadtplanerin Fabienne Hoelzel im Deutschlandradio Kultur, wir sprechen über ihre Erfahrungen in Sao Paulo mit dem Slum-Upgrading. Frau Hoelzel, Sie haben es gerade gesagt, also viele finden das schon auch gut, auch wenn sie vorher nun auch schon Strom und Wasser hatten. Ich hab gelesen, Sao Paulo sei eine gespaltene Stadt, wie überhaupt die brasilianische Gesellschaft, also es gibt - es ist eine der reichsten Städte, auch eine der teuersten Städte und zugleich eine der ärmsten. Also es gibt diese tiefe soziale Kluft. Ist es jetzt nicht so, wenn Sie diese Favelas jetzt so aufwerten, zementiert man nicht dadurch diese Spaltung eigentlich noch mehr?
Hoelzel: Das ist auch ein ganz wichtiger Punkt, den wir nicht wirklich gelöst haben. Das Programm ist auch relativ jung, also wir müssen da wahrscheinlich in 30 Jahren noch einmal unterhalten, wie das jetzt genau, was wie wo schiefgelaufen ist und was nicht. Aber in der Tat, ich glaube, das Werk hat bewiesen, in Anführungszeichen, dass es uns gelingt, die Favelas in Quartiere umzuwandeln mit einer angemessenen Lebensqualität. Aber die Stadt benutzt die Favelas nicht, die Favelas hingegen benutzen die Stadt. Also die Integration in eine Richtung, die funktioniert, aber in die andere Richtung nicht. Und das ist so, weil die Stadt nicht als Problem verstanden wird, sondern die Favelas werden als Problem verstanden. Und das ist natürlich, das ist eine allgemeine Denkweise, die fast alle haben, auch wir, die wir damit arbeiten. Und das ist ein falscher Denkansatz, natürlich.
Führer: Das zielt dann ja wirklich in Richtung Stadtplanung. Die hat in Europa ja eine lange Tradition, das sehen wir ja an den Städten. Wie ist das in Brasilien?
Hoelzel: Ja, leider überhaupt nicht. Also Städtebau, Stadtplanung, das ist irgendwann in den 50er-Jahren ist das mal gestorben sozusagen, wird auch an den Unis leider überhaupt nicht mehr gelehrt, und das merkt man natürlich. Es gibt zwar eine sehr effiziente Infrastrukturplanung in Sao Paulo, also Autobahnen, Flughäfen, die ganz großen Infrastrukturen, die werden sehr gut und auch, wie soll ich sagen, relativ radikal dann implementiert. Aber was wir hier Quartiersplanung nennen oder Quartiersentwicklung, so was gibt es nicht.
Führer: Aus europäischer Sicht ist Sao Paulo ja, na sagen wir mal doch eine Stadt, in der schwer zu leben ist. Es gibt wenig Grün, es gibt keinen Zugang zum Meer, die Flüsse sind verschmutzt, es gibt sehr viel Smog. Entwickelt die Behörde, für die Sie arbeiten, vielleicht auch so etwas wie ein ökologisches Konzept oder ist so etwas noch gar nicht in?
Hoelzel: Das ist auf jeden Fall ein Thema, weil, Sie haben es angesprochen, die Lebensqualität ist nicht sehr hoch. Und das müsste auch, meiner Meinung nach, der Ansatzpunkt sein. Nicht, dass ich gegen Ökologie wäre, aber in einem Land oder in einer Stadt, wo sehr viele Leute damit beschäftigt sind, wie kriege ich genug Essen auf den Tisch für morgen, dann mit ökologischen Themen zu kommen, ist ein bisschen, sozial ein bisschen schwer verträglich. Wenn man es aber anfängt über die Lebensqualität oder was wir jetzt versuchen, mein kleines Team, das Stadtplanungsteam, dass wir es auch versuchen, über die Ökonomie abzuwickeln. Zu sagen, wir können so auch Arbeitsplätze schaffen, indem wir ökologische Programme entwickeln, Agrikultur, Bed and Breakfast, was weiß ich - können wir erstens so die Stadt so integrieren über diese Programme und wir können zugleich Arbeitsplätze schaffen. Wir nennen das so zum Beispiel Economy through Ecology für einen unserer Pläne, den wir entwickelt haben.
Führer: Frau Hoelzel, jetzt treten Sie bei den Eschborner Fachtagen auf. Da geht es ja auch um die voranschreitende Verstädterung weltweit. Also man rechnet damit, dass in wenigen Jahrzehnten 70 Prozent der Menschen in den Städten leben werden. Da gibt es eine ganze Reihe von Experten, ein paar hundert. Sie treten auch auf. Was können Sie, was können denn andere Länder und Städte von Ihren Erfahrungen in Sao Paulo lernen, was meinen Sie?
Hoelzel: Ja, Brasilien hat sich natürlich, jetzt unabhängig von diesen Slum-Upgrading-Programmen Sao Paulos sehr positiv entwickelt. Die Ökonomie, die Wirtschaftskraft ist sehr stark. Brasilien hat gerade das Vereinigte Königreich abgelöst vom fünften Platz. Also die ökonomische Situation ist sehr, sehr gut. Das Land an sich steht einfach sehr gut da. Es ist ja auch kein Entwicklungsland mehr, so weit ich orientiert bin, leistet Deutschland auch keine Entwicklungshilfe mehr. Deswegen: Die Favelas sind konsolidiert. Die große Informalisierungsphase war in den 70er-, 80er-Jahren. Sao Paulo wächst auch nicht mehr so stark. Ich meine, es sind immer noch drei, vier Prozent, das ist auf elf Millionen oder 20 Millionen im Metropolitanraum, das sind dann immer noch ein paar Hunderttausend, aber es explodiert nicht mehr so wie jetzt afrikanische Städte. Das Land an sich ist zu 88 Prozent urbanisiert. Das ist gelaufen eigentlich. Wohingegen Afrika diesen Urbanisierungsprozess erst noch vor sich hat. Und weil das eben alles schon gelaufen und konsolidiert ist in Sao Paulo oder in Brasilien, haben wir natürlich andere Möglichkeiten, einzugreifen. Sei es über ein sogenanntes Slum-Upgrading, sei es über Stadtplanung, die Stadt ist jetzt da. Ich sag es mal ein bisschen plump, die Stadt ist da, jetzt können wir anfangen, damit zu arbeiten. Jetzt können wir anfangen, aufzuräumen sozusagen. Und das beschreibt relativ gut, glaube ich, den jetzigen Zustand, eigentlich.
Führer: Das sagt die Stadtplanerin Fabienne Hoelzel, sie arbeitet in Sao Paulo im Programm Slum-Upgrading. Und ich danke Ihnen für das Gespräch, Frau Hoelzel.
Hoelzel: Ich danke auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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"Vertrauen der Bevölkerung wiedergewinnen" - Ein Soziologe und der Polizeichef von Rio de Janeiro über das Projekt "Friedenspolizei"