Sozialexperte: Föderalismus verhindert Lösung im Hartz IV-Streit

Moderation: Nana Brink |
Der Bund müsse die Möglichkeit erhalten, Finanzmittel direkt an die Kommunen zu überweisen, fordert der Volkswirtschaftler und Sozialexperte Stefan Sell. "Es geht mittlerweile zu wie auf einem türkischen Basar, was die Inhalte angeht", kritisiert er außerdem das Gefeilsche der Bundesregierung mit der Opposition um eine Erhöhung des Hartz IV-Satzes.
Nana Brink: Die Hartz-IV-Reform scheint weiterhin festgefahren zu bleiben: Gestern Abend trafen sich Koalition und Opposition, um Bewegung in das Vermittlungsverfahren zu bringen. Und zuvor hatte jeder noch einmal ganz klargemacht, wo er steht. Die Bundesregierung in Gestalt von Arbeitsministerin von der Leyen plant eine Erhöhung des Regelsatzes um fünf Euro und ein Bildungspaket für Kinder aus armen Familien. SPD, Grünen und Linken ist das zu wenig und sie verlangen auch noch Zugeständnisse im Zuge der Mindestlöhne. Der Bundesrat hatte deshalb die Reform vor Weihnachten gestoppt, und – wie gesagt – auch gestern Abend keine Einigung. Am Telefon ist jetzt Professor Stefan Sell, Direktor des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik an der Fachhochschule Koblenz. Einen schönen guten Morgen, Herr Sell!

Stefan Sell: Guten Morgen!

Brink: Was ist denn Ihre Bilanz nach dem Spitzentreffen zur Hartz-IV-Reform gestern Abend?

Sell: Ja, eine zweigeteilte Bilanz. Beide negativ. Der erste Punkt ist, es geht ja wirklich zu wie auf einem türkischen Basar mittlerweile, was die Inhalte angeht. Und der zweite Punkt ist, man hat zwar nun dauernd gesagt, man hätte weitere Fortschritte wohl erzielt, aber man müsse jetzt bis zum 6. Februar eine Denkpause einlegen!

Brink: Bleiben wir eben beim ersten Teil Ihrer Antwort, auf dem türkischen Basar, was geht denn da hin und her?

Sell: Ja also wir müssen glaube ich ja noch mal in Erinnerung rufen: Ausgangspunkt dieser verqueren Situation war ja das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar des vergangenen Jahres, in dem es um die Frage der Art und Weise der Regelsatzbemessung ging, und hier hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, das muss neu, das muss transparent gemacht werden. So, jetzt hat die Bundesregierung in meinen Augen im vergangenen Jahr den zentralen Fehler gemacht, dass man zwar eine Neubemessung vorgenommen hat, die aber eben nicht transparent gemacht hat, sondern hinter verschlossenen Türen. Dann ging das Gestreite wieder los. Was jetzt aber passiert ist, ist, dass man sich immer mehr löst von der eigentlichen Frage, nämlich der Frage der Regelsatzhöhe, und vor allem der Frage, was brauchen die Kinder. Denn das Bundesverfassungsgericht hat ganz deutlich gesagt in seinem Urteil, dass die Bundesregierung – wer das auch immer ist – bisher noch keine Untersuchung vorgelegt hat, was brauchen eigentlich kleine und größere Kinder, was haben die für einen Bedarf, und dass der kindgerechte Entwicklungsbedarf berücksichtigt werden muss. Und daraus ist dann ja dieses Bildungspaket geworden, um sozusagen zu verhindern, dass man dort etwas verändert, wo es eigentlich hingehört, nämlich bei den Regelsätzen für die Kinder. Und die Opposition hat die Schwäche der Regierung jetzt ausgenutzt und packt Dinge in die Verhandlungen hinein, die möglicherweise sehr sympathisch sind ...

Brink: ... also die Mindestlöhne zum Beispiel ...

Sell: ... wie die Frage Mindestlöhne oder auch Schulsozialarbeit, alles sympathische Dinge, die aber eigentlich systematisch an dieser Stelle – jedenfalls erschließt sich mir das nicht – nicht unbedingt etwas mit dem zu lösenden Problem zu tun haben.

Brink: Ich weiß ja nicht, ob es Ihnen genau so geht, mir ist schleierhaft, wie eine Einigung in Sicht kommen kann?

Sell: Ja, nehmen wir mal ganz konkret das, wo die jetzt eine Denkpause machen wollen, ich hab mir das heute Morgen angeschaut. Das ist nämlich ein Problem, was wir schon seit Jahren mit uns zunehmend herumschleppen. Das Problem ist, man will ja nun auch die Kinder der Geringverdiener, der Wohngeldempfänger mit einbeziehen unter die Segnungen des Bildungspakets, und man hat sich wohl darauf verständigt – richtigerweise –, dass das Bildungspaket von den Kommunen umgesetzt werden muss. Denn es ist doch klar, das läuft vor Ort, in den Schulen, das muss über die Jugendhilfe gemacht werden. So, die Kommunen wollen natürlich die Kosten, die ihnen entstehen, erstattet bekommen. Und der Bund steht jetzt vor dem Problem: Ja, sie müssen darüber nachdenken, wie findet man jetzt Finanzierungswege, um den Kommunen diese Kosten zu erstatten? Was der Hörer wissen muss: Der Hintergrund dieser Geschichte ist, dass der Bund gar keine direkten Finanzzahlungen an die Kommunen leisten darf, weil unsere Verfassung das bisher sozusagen verboten hat. Das ist ein Effekt des Föderalismus. Und wir haben dasselbe Problem bei der Finanzierung der Kindertageseinrichtungen, auch dort hat der Bund dieses Problem. Er könnte den Kommunen gar kein Geld geben, das muss immer über die Länder laufen. Das heißt also, wir müssen eigentlich jetzt offensiv darüber nachdenken, tatsächlich hier eine Neujustierung dahingehend zu bekommen, dass der Bund auch direkte Finanzbeziehungen zu den Kommunen haben darf und haben muss, denn sonst werden die sich jetzt an dieser Stelle, werden die keine Lösung finden. Schon bei den Kindertageseinrichtungen hat es dort keine richtige Lösung gegeben.

Brink: Ist das der Grund, warum die Arbeitsministerin sagt, das Bildungspaket mitsamt dem Geld bleibt im Ministerium und wird von dort verteilt?

Sell: Ja, das hat natürlich zum Teil allerdings auch absurde Züge. Frau von der Leyen sagt, das ist natürlich ihr Geld, also Bundesgeld, und dieses Bundesgeld, wenn sie das ausgibt oder ausgeben muss, dann will sie die Kontrolle darüber behalten. Und die Jobcenter sind über die Bundesagentur für Arbeit vermittelt, sozusagen ihre Behörden. Aber sinnvollerweise, sachlogisch gehört die Durchführung natürlich selbstverständlich nicht in die heute schon total überforderten Jobcenter, sondern sie gehört auf die Ebene der Kommunen. Die Kommunen müssen – und dann auch verpflichtend – dafür in Anspruch genommen werden, und wenn man das sachlogisch betrachtet, dann müsste man hier einen staatsrechtlichen sauberen Weg finden, dass die Kommunen an das Geld kommen. Stattdessen geht es hier wieder darum, die einzelnen föderalen Ebenen voneinander abzugrenzen. Und wir erleben leider auch wieder an diesem Beispiel - wie in der Bildungspolitik und in anderen Politikfeldern, dass unser System des Föderalismus zunehmend ja sehr absurde Ergebnisse produziert.

Brink: Professor Stefan Sell, Direktor des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik an der Fachhochschule Koblenz. Schönen Dank für das Gespräch!

Sell: Danke Ihnen!

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