Sozialisationsstudie in zehn Kapiteln
Der Schriftsteller Thomas Hettche kehrt mit seinem neuen Buch zurück an den Ort seiner Kindheit. Nach seinen Romanen "Ludwig muss sterben" und "NOX", mit denen er bekannt und mehrfach ausgezeichnet wurde, hat er erstmals eine Art Autobiografie geschrieben.
"Totenberg" ist vielmehr eine Sozialisationsstudie in zehn Kapiteln. In jedem Kapitel schildert der Autor die Begegnung mit einem Künstler, einem Lehrer, einem geistigen Weggefährten, einem Gelehrten oder einem Zeitzeugen, dessen Wirken im Lauf der Jahre in ganz besonderer und spezifischer Weise auf ihn Einfluss genommen hat. Er beschreibt, wie er intellektuell und literarisch der wurde, der er ist und er beschreibt in lebendigen Porträts die Personen, die ihn bei seinem Werdegang - im konkreten wie im übertragenen - Sinn begleiteten.
Der aktuelle deutsche Buchmarkt quillt über von autobiografischen Erzeugnissen. Schriftsteller wie Gelegenheitsautoren folgen dem Trend, private Erfahrungen - ob Ehekrise, Sterben der Eltern oder Adoption eines Kindes - an die Öffentlichkeit zu bringen. Ein Trend, der unübersehbar im Zusammenhang steht mit der ins Unendliche gehenden Textproduktion und Kommunikation im digitalen Raum.
Der 1964 geborene Romanautor und Essayist Thomas Hettche hat sich in den vergangenen Jahren kritischer als die meisten seiner Schriftstellerkollegen mit der Verflüchtigung von Schrift und Kultur im Netz auseinandergesetzt. Dieses Engagement ist als Hintergrund seines neuen Buches zu betrachten. Es hat den Titel "Totenberg" und es ist ein Buch aus dem Geist des Autobiografischen.
Nur ist es alles andere denn eine konventionelle Nacherzählung des Privatlebens von Herrn Hettche. "Totenberg" ist vielmehr eine Sozialisationsstudie in zehn Kapiteln. In jedem Kapitel schildert der Autor die Begegnung mit einem Künstler, einem Lehrer, einem geistigen Weggefährten, einem Gelehrten oder einem Zeitzeugen, dessen Wirken im Lauf der Jahre in ganz besonderer und spezifischer Weise auf ihn Einfluss genommen hat. Er beschreibt, wie er intellektuell und literarisch der wurde, der er ist und er beschreibt in lebendigen Porträts die Personen, die ihn bei seinem Werdegang - im konkreten wie im übertragenen - Sinn begleiteten.
Auf den ersten Blick liegt der Reiz des Buches in den Divergenzen dieser Personen: Auf Christa Bürger, die renommierte, heute in Bremen lebende und dem linken Spektrum zuzurechnende Germanistin, bei der Hettche vor Jahrzehnten studierte, folgt im zweiten Kapitel kein anderer als Hans Jürgen Syberberg, der sich mit seinen Polemiken gegen das linke juste milieu der deutschen Nachkriegsrepublik ins Abseits brachte und heute das heruntergekommene Gutshaus seiner Vorfahren in Pommern bewohnt und durchgeistert.
Eine Ärztin, die sich auf die Behandlung von Fettleibigkeit spezialisiert hat, tritt in einem weiteren Kapitel auf, Ernst Jüngers Verleger Michael Klett, die Künstlerfotografin Angelika Plate, die Buchhändlerin und Vertriebsleiterin Henriette Fischer, die viele Jahre auf Sylt arbeitete, am Bohemebetrieb der Insel teilnahm und sich allabendlich im Nachtlokal der alten Grotesktänzerin Valeska Geert einfand. Sie alle haben Teil am Gruppenbild mit Autor, das Thomas Hettche hier essayistisch und erzählerisch entwirft.
Was an diesem Buch auf den zweiten Blick so überaus besticht, ist sein konzentrierter, ökonomischer Gestus. Jede Selbstmitteilung des Autors steht im Interesse einer kulturgeschichtlichen Selbsterkenntnis, jede Selbstreflexion öffnet sich wie von selbst zu einer exemplarischen Gegenwartsgeschichte der Bundesrepublik. "Totenberg" zeigt Thomas Hettche auf der Höhe seines stilistischen und essayistischen Vermögens. Und nebenbei verhilft dieses Buch dem abgewirtschafteten Genre der Autobiografie zu neuem Glanz.
Besprochen von Ursula März
Thomas Hettche: "Totenberg"
Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2012
213 Seiten, 18,99 Euro
Der aktuelle deutsche Buchmarkt quillt über von autobiografischen Erzeugnissen. Schriftsteller wie Gelegenheitsautoren folgen dem Trend, private Erfahrungen - ob Ehekrise, Sterben der Eltern oder Adoption eines Kindes - an die Öffentlichkeit zu bringen. Ein Trend, der unübersehbar im Zusammenhang steht mit der ins Unendliche gehenden Textproduktion und Kommunikation im digitalen Raum.
Der 1964 geborene Romanautor und Essayist Thomas Hettche hat sich in den vergangenen Jahren kritischer als die meisten seiner Schriftstellerkollegen mit der Verflüchtigung von Schrift und Kultur im Netz auseinandergesetzt. Dieses Engagement ist als Hintergrund seines neuen Buches zu betrachten. Es hat den Titel "Totenberg" und es ist ein Buch aus dem Geist des Autobiografischen.
Nur ist es alles andere denn eine konventionelle Nacherzählung des Privatlebens von Herrn Hettche. "Totenberg" ist vielmehr eine Sozialisationsstudie in zehn Kapiteln. In jedem Kapitel schildert der Autor die Begegnung mit einem Künstler, einem Lehrer, einem geistigen Weggefährten, einem Gelehrten oder einem Zeitzeugen, dessen Wirken im Lauf der Jahre in ganz besonderer und spezifischer Weise auf ihn Einfluss genommen hat. Er beschreibt, wie er intellektuell und literarisch der wurde, der er ist und er beschreibt in lebendigen Porträts die Personen, die ihn bei seinem Werdegang - im konkreten wie im übertragenen - Sinn begleiteten.
Auf den ersten Blick liegt der Reiz des Buches in den Divergenzen dieser Personen: Auf Christa Bürger, die renommierte, heute in Bremen lebende und dem linken Spektrum zuzurechnende Germanistin, bei der Hettche vor Jahrzehnten studierte, folgt im zweiten Kapitel kein anderer als Hans Jürgen Syberberg, der sich mit seinen Polemiken gegen das linke juste milieu der deutschen Nachkriegsrepublik ins Abseits brachte und heute das heruntergekommene Gutshaus seiner Vorfahren in Pommern bewohnt und durchgeistert.
Eine Ärztin, die sich auf die Behandlung von Fettleibigkeit spezialisiert hat, tritt in einem weiteren Kapitel auf, Ernst Jüngers Verleger Michael Klett, die Künstlerfotografin Angelika Plate, die Buchhändlerin und Vertriebsleiterin Henriette Fischer, die viele Jahre auf Sylt arbeitete, am Bohemebetrieb der Insel teilnahm und sich allabendlich im Nachtlokal der alten Grotesktänzerin Valeska Geert einfand. Sie alle haben Teil am Gruppenbild mit Autor, das Thomas Hettche hier essayistisch und erzählerisch entwirft.
Was an diesem Buch auf den zweiten Blick so überaus besticht, ist sein konzentrierter, ökonomischer Gestus. Jede Selbstmitteilung des Autors steht im Interesse einer kulturgeschichtlichen Selbsterkenntnis, jede Selbstreflexion öffnet sich wie von selbst zu einer exemplarischen Gegenwartsgeschichte der Bundesrepublik. "Totenberg" zeigt Thomas Hettche auf der Höhe seines stilistischen und essayistischen Vermögens. Und nebenbei verhilft dieses Buch dem abgewirtschafteten Genre der Autobiografie zu neuem Glanz.
Besprochen von Ursula März
Thomas Hettche: "Totenberg"
Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2012
213 Seiten, 18,99 Euro