"Rezo ist Habermasianer"
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Wir müssen reden: Jürgen Habermas glaubt unbeirrt an die Kraft des besseren Arguments. Aber taugt dieses Credo noch für die Mediengesellschaft von heute? Zumindest als Ideal, sagen die Sozialphilosophen Axel Honneth und Martin Saar.
Wenn geistige Generationenfolge noch etwas gilt in digitalen Verhältnissen, dann ist Jürgen Habermas‘ prominentester Urenkel im Geiste derzeit wohl bei Youtube zu finden. Aus dem Video "Die Zerstörung der CDU" des Youtubers Rezo spricht nach der Einschätzung des Philosophen Martin Saar ein Grundvertrauen in das Konzept einer vernünftigen Öffentlichkeit. Das hat so gründlich wie kein anderer Jürgen Habermas 1981 in seinem Hauptwerk "Theorie des kommunikativen Handelns" entworfen.
Im Universum öffentlicher Gründe
"Rezo ist Habermasianer", sagt Saar im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur. Schon die hohe Frequenz von Quellenangaben, die der Selfmade-Publizist in sein Video einblende, lasse keinen Zweifel daran, dass er an eine politische Kultur glaube, die Habermas das "Universum öffentlicher Gründe" nennt. Rezo sei ganz offensichtlich davon überzeugt, "in einem einstündigen Diskurs, der Begründungsstruktur hat, ganze Generationen zum Umdenken und zum Handeln bewegen zu können."
Ist Jürgen Habermas‘ Verständnis von Öffentlichkeit und politischer Meinungsbildung, das in der politischen Theorie und Sozialphilosophie seit den 1970er-Jahren weltweit eine enorme Resonanz fand, also auch auf die sozialen Medien von heute anwendbar? Der Philosoph Axel Honneth, einst Assistent bei Habermas und heute selbst einer der international profiliertesten Vordenker von Gesellschaftstheorie, ist da skeptisch. Viele Äußerungen auf Plattformen wie Youtube, Twitter oder Instagram betrachtet Honneth gar nicht als "Kommunikation" im Sinne von Habermas, sondern bestenfalls als "Rohmaterial, das den Anlass zur Kommunikation stiftet".
Anlässlich von Habermas‘ 90. Geburtstag am 18. Juni diskutieren Axel Honneth und Martin Saar, welche seiner wegweisenden Ideen Forschung und Politik weiterhin bewegen. Beide stehen selbst in der Tradition der Kritischen Theorie, die Jürgen Habermas seit den 1960er-Jahren entscheidend geprägt hat.
Politischer Wettstreit als Hort der Vernunft
Axel Honneth erkennt einen "genialen Zug" von Habermas‘ Gesellschaftstheorie darin, dass er die Öffentlichkeit – eigentlich eine politische Institution – zum Ort der Vernunft erkläre: "Er ist der Überzeugung, was dort geschieht, ist der Kern dessen, was wir als Vernunft bezeichnen, indem wir uns nämlich in der Auseinandersetzung durch Bezüge auf öffentliche Gründe zu verständigen suchen."
Habermas stelle damit "den klassischen Sinn von Philosophie" ins Zentrum des gesellschaftlichen Handelns, so Martin Saar, "nämlich Orientierung am Geist oder am Logos". Vernunft realisiere sich in Gesellschaft: "im Geben und Nehmen von Gründen". Für seine Überzeugung, dass die vernünftigste Lösung sich dabei unter günstigen Bedingungen am Ende durchsetze, prägte Habermas die Formel vom "zwanglosen Zwang des besseren Arguments".
Doch wo herrschen solche Bedingungen? Kritiker werfen Habermas und seinen Anhängern seit Langem vor, "dass sie den Seminarraum mit der richtigen Welt verwechseln", räumt Saar ein. Funktioniert Habermas‘ Konzept des kommunikativen Handelns am Ende nur unter Laborverhältnissen? Sein Programm mache immerhin bewusst, dass politisch-autoritäre oder privatwirtschaftliche Interessen dem freien gemeinsamen Räsonieren entgegenstehen, meint Martin Saar. In einem Raum, "der ansonsten ja überquillt vor Werbung, Meinungsmache, Manipulation" wie Youtube, seien "kleine widerständige Vorstöße" wie Rezo sie unternehme, ermutigend.
"Wissen, das ganz in der Welt ist"
Was gibt Habermas für die Zukunft auf? Axel Honneth erkennt in seinen Reflexionen zur Religion und im Begriff des "Postsäkularen" eine wichtige Botschaft. Habermas habe einen "Mangel der säkularen Vernunft" erkannt, die auf existenzielle Krisen keine Antwort habe und "uns kein Vertrauen in ein Getragensein durch den Kosmos oder die Natur vermitteln kann". Honneth sieht darin eine Herausforderung für das westliche Selbstverständnis.
Martin Saar schätzt die Art und Weise, wie Habermas als Gesellschaftsdenker das Philosophische mit dem Nichtphilosophischen verbinde: "Die Idee, dass Wissen oder Vernunft nicht neutral ist, nicht ungebunden, nicht absolut, sondern mittendrin steckt in den vitalen Interessen, in den Kämpfen, das fasziniert mich: eine Vernunftvorstellung, die ganz weltlich ist, Wissen, das ganz in der Welt ist und auch auf Freiheit und Emanzipation bezogen." Darin liegt für Saar die bleibende Inspiration.
(fka)