Sozialrichter wirft Roland Koch wegen Hartz-IV-Aussagen Inkompetenz vor

Jürgen Borchert im Gespräch mit Joachim Scholl |
Die gesamte Debatte um Hartz IV, wie sie in den Medien und auch vom hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) geführt werde, sei "total inkompetent", sagt der Sozialrichter Jürgen Borchert, der einen der in Karlsruhe verhandelten Fälle an das Bundesverfassungsgericht verwiesen hatte.
Joachim Scholl: Philipp Schnee über das anstehende Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Regelsätzen. Wir sind jetzt verbunden mit Jürgen Borchert. Er ist Richter am Landessozialgericht in Darmstadt, und er hat einen der verhandelten Fälle nach Karlsruhe verwiesen. Guten Morgen, Herr Borchert!

Jürgen Borchert: Guten Morgen, Herr Scholl!

Scholl: Was war für Sie ausschlaggebend, Herr Borchert, dass Sie die bestehenden Hartz-IV-Sätze mit Blick auf das Grundgesetz der Menschenwürde überprüft haben wollten?

Borchert: Also der Senat hat das in einem sehr umfangreichen, sehr detaillierten Beschluss niedergelegt, vor allen Dingen die Frage des transparenten Verfahrens und die Frage, wer eigentlich wo über die Existenzminima entscheidet, dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Bisher läuft das ganze Verfahren so, dass tatsächlich in Hinterzimmern von irgendwelchen Experten gerechnet wird, bis es passt, und der Finanzminister sagt: Ja, das kann ich akzeptieren.

Scholl: Wie sehen denn diese Kriterien eigentlich aus?

Borchert: Ja, das soll eigentlich sich orientieren an der Lebenshaltung der untersten 20 Prozent, in der Realität haben wir es zu tun mit einer Gruppe, die noch weit unterhalb dieses untersten Fünftel angesiedelt ist, weil man sich nämlich nicht an den Familienhaushalten orientiert, die durchweg ein höheres Verbrauchsniveau haben. Zweitens sind die Haushalte nicht sorgfältig daraufhin überprüft, dass sie auch keine Sozialhilfehaushalte selbst enthalten, was zu einer groben Ungenauigkeit dieses Verfahrens führt. Das hat der Präsident Papier in der mündlichen Verhandlung alles schon gründlich angesprochen und damit deutlich gemacht, dass der Schwerpunkt der Entscheidung wohl liegen wird auf der Frage, wer wo und wie über dieses Existenzminimum entscheidet. Erstens gehört es nämlich ins Parlament, in den Bundestag. Das ist die entscheidende Verteilungsfrage in dieser Republik. Und insofern haben wir zwei Punkte noch angesprochen, die mehr als unbefriedigend aussahen, nämlich die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht selbst gesagt hat, zum kindlichen Existenzminimum gehören auch die Leistungen, die Kinder brauchen, um in einer Bildungsgesellschaft, in einer Kulturgesellschaft, in einer weltoffenen Gesellschaft wie der unseren sich altersgemäß entwickeln können. Dazu gehört …

Scholl: Das ist etwa die Musikstunde zum Beispiel.

Borchert: Ja, und die Sprachkurse, auch im Ausland, die müssten dazugehören, hat das Bundesverfassungsgericht selbst für die steuerlichen Existenzminima vorgegeben. Wenn das für die steuerlichen Existenzminima gilt, war für uns überhaupt nicht begreiflich, dass es nicht gleichzeitig auch gelten sollte für den Sozialleistungstatbestand Armut. Denn die Gesellschaft muss ja ein vitales Interesse daran haben, dass der Nachwuchs die optimalen Bildungsvoraussetzungen bekommt. Das war der eine Punkt. Der zweite Punkt ist, dass man mit Hartz IV die Individualisierung abgeschafft hat, die vorher in der Sozialhilfe vorhanden war, dass man nämlich bei Einzelfällen, die vollkommen anders gelagert sind als der Durchschnitt, auch eingreifen können muss und sagen können muss, hier muss geholfen werden.

Scholl: Nun ist die Hartz-IV-Problematik, Herr Borchert, eine zutiefst politische, die aber auch die Gesellschaft teilt. Seit der Reform haben wir immer wieder Stimmungswellen erlebt, wonach sich Hartz-IV-Empfänger in der sozialen Hängematte räkeln, das jüngste Beispiel waren Roland Kochs Überlegungen zum Arbeitsdienst. Aus all dem entsteht ja eine sozial angespannte, auch aggressive Stimmung, aus der ja vermutlich auch kein Grundsatzurteil des BGH heraushilft, oder doch?

Borchert: Also, was die Kampagnen im Zusammenhang mit Hartz IV angeht, die als Erster Wolfgang Clement angezettelt hat im Sommer 2005, als man erschrak, wie teuer das Ganze auf einmal wird, und die jetzt Roland Koch wieder angezettelt hat, kann ich nur sagen, mir ist etwas Schlimmeres und Skandalöseres in meinen mittlerweile 35 Jahren intimster Befassung mit Sozialstaatsproblemen nie vorgekommen. Das ist außerdem, was wir jetzt zuletzt erlebt haben, eine total inkompetente Debatte, die an dem Kern des Problems total vorbeigeht. Denn ob es die "Bild"-Zeitung war, die "Frankfurter Allgemeine", Roland Koch, wer auch immer sich geäußert hat, hat mit den Beispielen, die er brachte, immer wieder gesagt: Hier die Familien machen es sich bequem. Für Einzelpersonen ist das überhaupt kein Thema, dieses sogenannte Lohnabstandsgebot. Und bei den Familien ist Folgendes das Problem: Es ist nicht das Problem, dass die Leistungen zu hoch wären, sondern dass die Keile zwischen Brutto und Netto für Familien unerträglich groß sind. Und das ist ein Problem, das hat das Bundesverfassungsgericht seit Langem schon entschieden und hat dem Gesetzgeber gesagt: Hör mal zu, die Tatsache, dass Familien, die Kinder großziehen, die für die Sozialsysteme elementare existenzielle Bedeutung haben, dass diese Leistungen von Familien bei der Beitragsseite der Sozialversicherung nicht berücksichtigt werden, ist mit der Verfassung nicht vereinbar. Bitte geh hin und sorge dafür, dass die Kindererziehung in der Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung entsprechend berücksichtigt wird, dass die Familien nicht so hart von den Beiträgen geprügelt werden. Hätte der Gesetzgeber diesen Aufträgen Folge geleistet, dann wäre das Lohnabstandsgebot überhaupt kein Problem, dann hätten wir nämlich auskömmliche Einkommen für Eltern, die Durchschnittsverdienste erzielen, die derzeit aber mit ihren Durchschnittseinkommen um Tausende Euro pro Jahr gerechnet unterhalb des Existenzminimums landen.

Scholl: Aber Herr Borchert, wenn man Ihre Kritik jetzt ins Praktische, Konkrete verlängert, dann müsste man sagen, unser gesamtes Sozialversicherungssystem ist eigentlich obsolet und müsste geändert werden. Wie denn?

Borchert: Das ist doch sowieso klar, dass ein Sozialsystem, was die sozialen Verantwortlichkeiten bei den Arbeitnehmern konzentriert, und bei denen ausgerechnet, bei denen, die die relativ niedrigeren Einkommen haben, und dass man alle höheren Einkommen von der sozialen Verantwortlichkeit entbindet und ihnen sozusagen die Schweiz mitten in Deutschland vor die Füße legt, das ist doch ein Skandal sondergleichen. Weil dieses System führt dazu, dass wir eine grausame, massive Umverteilung von unten nach oben haben, und diese Umverteilung schafft die Probleme, vor denen der Sozialstaat eigentlich schützen soll. Die doppelte Kinderarmut, die wir seit 1965 erleben, nämlich dass wir die Geburtenzahl seit 1965 von über 1,3 Millionen auf heute 650.000 halbiert haben und gleichzeitig den Anteil der Kinder in der Sozialhilfe versechzehnfacht haben, geht zurück auf genau diese Steigerung dieser Abgaben wie der Sozialversicherungsbeiträge, die regressiv belasten. Sie belasten die unteren Einkommen relativ viel härter als die oberen Einkommen. Und die machen fast die Hälfte der Staatseinnahmen insgesamt aus. Und weitere 30 Prozent der Staatseinnahmen basieren auf Verbrauchssteuern, und Verbrauchssteuern wirken genauso heimtückisch und belasten die unteren Einkommen viel härter als die oberen Einkommen.

Scholl: Nun, Herr Borchert, wird darüber heute jetzt in Karlsruhe nicht geurteilt. Was erwarten Sie sich denn jetzt von den Karlsruher Richtern, vielleicht auch als Signal in diese etwas sozialethisch gerechtere Richtung?

Borchert: Also das Beste, was nach meiner Überzeugung dabei herauskommen kann heute, ist ein aus Artikel 1 und 20 Grundgesetz – und zwar im Artikel 20 Sozial- und Rechtsstaatsprinzip – ein aus diesen beiden Artikeln abgeleitetes neues Grundrecht auf einen gesamtgesellschaftlichen Wohlstand orientiertes, menschenwürdiges Existenzminimum, das jährlich im parlamentarischen Verfahren, das heißt unter Beobachtung des Wählers, festgelegt und von der Justiz dann zumindest im Wege der Evidenzkontrolle überprüfbar ist. Und das würde bedeuten, dass die Verteilungsfrage in aller Klarheit und Verbindlichkeit im Bundestag zu entscheiden ist, was ja eben bisher nicht der Fall ist.

Scholl: Heute urteilt das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe über die Hartz-IV-Regelsätze. Das war der Sozialrichter Jürgen Borchert aus Darmstadt. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Borchert!

Borchert: Herr Scholl, vielen Dank, schönen Tag, tschüss!
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