Sozialüberwachung in China

"Das öffnet Denunziationen Tür und Tor"

Überwachungskamera auf dem Tiananmen Platz in der chinesichen Hauptstadt Peking
Der Staat sieht alles: Überwachungskamera auf dem Tiananmen Platz in der chinesischen Hauptstadt Peking. © picture-alliance/ dpa
Tilman Spengler im Gespräch mit Anke Schaefer |
Mit einem "Sozialpunkte-System" will China die Überwachung seiner Bürger ausbauen. Viele Chinesen sind laut einer Studie für das System. Absurde Auswüchse und gegenseitiges Misstrauen seien die Folge, sagt unser Studiogast Tilman Spengler.
Bis 2020 will China ein lückenloses "Sozialkredit-Punktesystem" zur Belohnung und Bestrafung des Sozialverhaltens der Bürger installieren. Wer in einer Bewertung schlecht abschneidet, kann in allen Lebensbereichen eingeschränkt werden. Bürger, die ihre Schulden nicht zurückzahlen, dürfen beispielsweise keinen Schnellzug oder kein Flugzeug mehr für Reisen benutzen. Jeder Bürger soll mit 1000 Punkten starten. Wer sich sozial nicht korrekt verhält, bekommt Punkte abgezogen. Wer sich sozial vorbildlich verhält, bekommt Punkte dazu.
In 40 Städten wird das System derzeit erprobt. 80 Prozent der Nutzer sollen das Sozialpunkesystem befürworten. Dies hat eine Studie der Freien Universität unter chinesischen Internetnutzern herausgefunden. Die Befürworter erklären, sie hätten kein Vertrauen in eine funktionierende chinesische Gesellschaft oder die kommunistische Partei wisse ohnehin über alles Bescheid.

Keine stabile Gesellschaft

Sinologe Tilman Spengler beurteilt die Aussagekraft der FU-Studie skeptisch: Gemessen an der sehr heterogenen Gesamtbevölkerung von rund 1,3 Milliarden erscheine ihm die Zahl der Befragten wenig repräsentativ.
Tilman Spengler sitzt im Radiostudio vor einem Mikrofon
Unser Gesprächsgast: Der Sinologe und Publizist Tilman Spengler.© Deutschlandfunk Kultur/Jana Demnitz
Dass in China relativ viele Bürger die Sozialüberwachung nicht sehr kritisch sehen, sei aber durchaus glaubhaft. Er selbst habe dort erlebt, "dass zahllose Leute gesagt haben: 'Das ist ja wunderbar – kein Koffer geht verloren, weil 58 verschiedene Überwachungskameras an jeder Hausecke sind'."
Auf jeden Fall öffne das neue System Denunziationen Tür und Tor: "Sie können gerne mal anrufen und sagen: ‚Ich habe den Nachbarn beim Pornofilmsehen und beim Schnapstrinken erwischt und dann hat er auch noch seine Kinder verprügelt‘." Und eine Gesellschaft, die auf Denunziation beruht – "die kann ich mir nicht so richtig stabil vorstellen".
Zumindest in chinesischen Städten wie Peking oder Shanghai gebe es "unendlich viele" Wachpersonen, die an einer Armbinde gut zu erkennen seien. Meist handele es sich dabei um Rentner auf Patrouille. Denen könne man vermutete Sozialverstöße melden. Tatsächliche oder vermeintliche.

Absurde Auswüchse

Das Punktesystem führe schon jetzt zu absurden Auswüchsen, sagt Spengler weiter, weil für verschiedene Bevölkerungsgruppen beziehungsweise Minderheiten andere Regeln gälten. Beispiel: Schnapstrinken werde in China als ein Vergehen eingestuft und bedeute Punktabzug. "Wenn Sie aber ein Moslem sind und Schnaps trinken, dann ist das ein positiver Punkt für Sie, weil es zeigt, dass Sie kein überzeugter Moslem sind – denn sonst würden Sie keinen Schnaps trinken."
Grundsätzlich sei es schwierig, in China ein gegenseitiges Vertrauen zu etablieren, denn die Chinesen hätten in zu vielen verschiedenen Systemen zusammengelebt: von der ultrarevolutionären bis zur extremkapitalistischen Aufbruchstimmung. Da sei einiges "durcheinander geschaukelt und wenig Stabilität". Das schaffe Misstrauen. (mkn)

Die komplette Sendung mit Tilman Spengler:
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