Sozialwort

Gut gemeint, schlecht gemacht

Friedhelm Hengsbach im Gespräch mit Joachim Scholl |
Der Jesuit Friedhelm Hengsbach hält das Sozialwort der Kirchen für "äußerst blass". In dem 60-seitigen Papier würden zwar Leitbilder benannt. Die Kirchen bezögen aber "keine entschiedene Stellung" zu sozialen Missständen.
Joachim Scholl: Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft - so heißt die Initiative des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands und der Deutschen Bischofskonferenz. Zur Stunde wird sie in Frankfurt am Main vorgestellt, eine Schrift von 60 Seiten. Es geht dabei um eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung in Zeiten der Globalisierung, der Finanz- und Schuldenkrise, die auch bei uns, in unserem reichen Land, immer mehr Armut und sozialen Abstieg erzeugt. Dazu haben wir hier im Deutschlandradio Kultur eine Themenreihe gestaltet in dieser Woche, und jetzt begrüße ich in Mannheim den katholischen Sozialethiker Friedhelm Hengsbach. Guten Tag!
Friedhelm Hengsbach: Guten Tag, ich grüße Sie auch!
Scholl: Nach seinem Amtsantritt, Herr Hengsbach, hat Papst Franziskus in einem seiner ersten Lehrschreiben klargestellt, wörtlich: "Ein Wirtschaftssystem, das Menschen ausschließt, tötet." Ist die gemeinsame Initiative der beiden Kirchen Deutschlands ebenso deutlich im Ton?
Hengsbach: Absolut nicht. Es ist zunächst einmal nicht ein Dokument der Kirche, der Kirchen, sondern ein Dokument der Kirchenleitungen. Und von daher ist das auch, manches, was da gesagt wird, sehr blass, zum Beispiel gemeinsame Verantwortung. Wer sind denn eigentlich die Akteure, die jetzt verantwortlich sind? Sind es die staatlichen Organe, sind es die Unternehmen, sind die Unternehmensverbände, die Gewerkschaften, die Medien, vielleicht auch die Kirchen? Seltsamerweise haben die Kirchen sich völlig ausgeblendet aus ihrer eigenen Verantwortung.
Scholl: Die Schrift hat 60 Seiten, und es gibt viele Unterpunkte, die immer so mit Überschriften beginnen: Gemeinsame Antwort, gemeinsame Verantwortung heißt, gemeinsame Verantwortung für, etwa zum Beispiel gemeinsame Verantwortung heißt wirtschaftliches Wachstum in den Dienst für den Menschen zu stellen. Oder: Die gemeinsame Verantwortung, die ethischen Maßstäbe für die Wirtschaft zu erneuern. Es scheint doch so, als ob die Kirchen das Problem erkannt haben und jetzt entsprechend reagieren.
Hengsbach: Die Überschriften klingen also sehr interessant und man wird neugierig, was dann am Ende in diesen einzelnen Modulen, es sind insgesamt zehn, steht. Und da muss man, meine ich, feststellen, dass also die ethische Argumentation äußerst blass ist. Dafür werden insgesamt 15 normative Leitbilder, also Freiheit und Gerechtigkeit, Verteilungschancen, Generationengerechtigkeit, Beteiligungsgerechtigkeit, Solidarität und soziale Gerechtigkeit irgendwo eingesprenkelt. Dass das eine ethische Argumentation insgesamt ist, kann man also nicht sehen.
Das andere, denke ich, dass eben halt die großen Worte am Ende dann blass bleiben, und ich sehe jedenfalls in den einzelnen Abschnitten, beobachte ich eine große Teilnahmslosigkeit – im Unterschied zu dem, was der Papst genannt hat. Der hat sich gleichsam – der hat die Menschen im Blick gehabt, beispielsweise die Frauen, die Ausgeschlossenen, die prekär Beschäftigten oder alten Menschen, die gleichsam auf dem Müll ihren Lebensunterhalt suchen, während in diesem Papier eine abgeklärte Diskussion zu sehen ist, gleichsam, als wären Menschen vom anderen Stern gekommen und hätten sehr ausgewogen und sehr abgeklärt, aber teilnahmslos, die gegenwärtige Situation beschrieben.
"Ich beobachte eine große Teilnahmslosigkeit"
Scholl: Kommen denn diese Komplexe wie Armut und sozialer Abstieg überhaupt vor?
Hengsbach: Ja, sie kommen vor, und das ist natürlich auch anzuerkennen. Aber sie kommen vor, beispielsweise, in einer positiven Einschätzung der gesellschaftlichen angeblichen Reformen, also Agenda 2010, Entregelung der Arbeitsverhältnisse, Demontage der sozialen Sicherungssysteme, die also positiv beurteilt werden. Also, die politischen Maßnahmen, und ich denke auch, der ganze Hintergrund der großen Koalition wird positiv beurteilt, weil die Kirchenleitungen den Schulterschluss suchen zu den wirtschaftlichen und politischen Eliten, die gleichsam in der großen Koalition eine Architektur aufgezogen haben.
Scholl: Das heißt, Ihr Fazit lautet also, die Kirchen werden ihrer Verantwortung in diesem Bereich nicht gerecht?
Hengsbach: Die Kirchen sollten, was sie am Ende auch zugestehen, nicht über Gerechtigkeit in der Wirtschaft und in der Gesellschaft reden, wenn sie das in ihrem eigenen Bereich nicht auch verwirklichen. Und da können sich die Kirchenleitungen nicht herausreden, dass sie nur Politik möglich machen wollen, sondern sie sollten selbst politische Entscheidungen in ihrem Bereich so fällen, dass auch Gerechtigkeit und Freiheit für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tatsächlich erreicht wird.
Scholl: Gemeinsam Verantwortung übernehmen für soziale Gerechtigkeit, das wollen die katholische und evangelische Kirche Deutschlands, und darüber sind wir im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Sozialethiker Friedhelm Hengsbach. Was hätten Sie denn, Herr Hengsbach, der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz aufgeschrieben, wenn man Sie um Rat gefragt hätte: Welche Punkte an gemeinsamer Verantwortung wären Ihnen wichtig, und überhaupt dann wirklich auch die Konsequenz daraus zu ziehen?
Hengsbach: Ich hätte erwartet, dass sie erst mal, wie damals vor 25 Jahren, die Kirchenbasis beteiligt hätten an der Ausarbeitung eines solchen Dokumentes. Dann hätte dies anders ausgesehen. Denn das zeigt sich, dass sie keine Stellung beziehen, keine eindeutige, entschiedene Stellung, und diejenigen in den Blick nehmen, die beispielsweise Betroffene oder Leidende sozialer Konflikte sind, beispielsweise die Frauen, im Unterschied zu den Männern. Oder diejenigen, die im Gesundheitsbereich, im Bildungsbereich arbeiten oder im Erziehungsbereich. Das sind ja auch wieder überwiegend Frauen, im Unterschied zu den in der Industrie und im Export tätigen überwiegend Männern. Dass sie beispielsweise die Spannung zwischen privater Vermögensbildung und Anhäufung und der öffentlichen Armut thematisieren, und zwar auf der Basis derjenigen, die öffentlich arm sind, also der kommunalen Haushalte oder auch der Länderhaushalte, überhaupt der öffentlichen Haushalte. Und dass sie praktisch die Unterschiede in den Arbeitsverhältnissen sehen. Auf der einen Seite die Entregelung der Arbeitsverhältnisse, der Leiharbeiter, der befristet Beschäftigten, der Teilzeit Arbeitenden, unfreiwillig Teilzeit arbeitenden Frauen und derjenigen, die zu Werkverträgen praktisch gezwungen werden, die also nicht integriert sind in die Arbeitsverhältnisse. Und dass sie praktisch auch die Leiden in der Privatsphäre sehen. Die ungleiche Verteilung der Arbeit für Frauen und Männer, dass also die Kinderbetreuung und die Altenpflege überwiegend den unbezahlt arbeitenden Frauen zugewiesen wird, während die Männer voll erwerbstätig sind. Positionen jenseits der Erwerbsarbeit, in die Zukunft gerichtet, die sind eigentlich in diesem Papier praktisch unterbelichtet, weil natürlich in erster Linie sie das, was in der Großen Koalition akzeptiert wird, gegenwärtig spiegeln.
Scholl: Welche Veränderungen, Herr Hengsbach, wären denn Ihrer Meinung nach grundsätzlich notwendig, um diese zunehmende Entsolidarisierung der Gesellschaft, dieses Auseinanderfallen auch zwischen arm und reich zu verhindern?
Verteilungskonflikte "nicht in der Schärfe herausgearbeitet"
Hengsbach: Eine Steuerpolitik, die gleichsam nicht von unten nach oben umverteilt, wie das bisher in den letzten 20 Jahren der Fall war, sondern ein Versuch, an die Spitzeneinkommen und an die Vermögenswerte, die ja extrem ungleich verteilt sind, heranzukommen und sie öffentlich dienstbar zu machen. Eine Wirtschaft, die den Menschen dienen soll, das ist ja gleichsam – das haben die Bischöfe und auch die Kirchenpräsidenten ja auch deutlich gesagt, muss den Menschen dienen. Und eine solche Wirtschaft braucht meiner Meinung nach in erster Linie eine andere Verteilung dessen, was gemeinsam erarbeitet wird. Und diese Verteilungskonflikte sind in diesem Papier nicht in der Schärfe jedenfalls, wie das also in dem früheren Sozialwort der Fall war, herausgearbeitet worden.
Scholl: Das sagen Sie jetzt sehr – diplomatisch fast, Herr Hengsbach. Also ich hatte den Eindruck beim Lesen, dass also betont die Reichen verschont werden. Bloß keine, wie es dann immer so heißt, bloß keine Neiddebatte, bloß nicht den Reichen irgendetwas wegnehmen, sondern irgendwie so, die Eigentumsverhältnisse werden eigentlich als gesund und entwicklungsfähig gestaltet. Da denkt man natürlich sofort, eigentlich war der traditionelle Ort früher der Kirche, der Caritas, an der Seite der Armen. Das spiegelt das Papier keinesfalls wieder, oder?
Hengsbach: In keinem Fall. Das ist ein Papier, das gleichsam aus der Weltraumperspektive die Situation in der Welt betrachtet. Und es wird vieles beschönigt. Und ich hab eher den Eindruck, es wird gleichsam so der Hauptstrom der öffentlichen Meinung nur gespiegelt. Zwar kann man sehen, auf der einen Seite werden positive Aspekte gesehen, aber auch negative Folgen, aber es werden daraus nicht die Konsequenzen, vor allen Dingen nicht die politischen Konsequenzen gezogen. Es wird alles gelobt, was gegenwärtig so die Architektur der Großen Koalition ausmacht. Mehr nicht.
Scholl: Wenn weder die Politik, wie Sie es gerade entfaltet haben, Herr Hengsbach, noch die Kirchen hier also ihrer sozialen Verantwortung gerecht werden. Welche gesellschaftliche Kraft, wenn man es so nennen will, wäre denn überhaupt Ihrer Meinung nach imstande, hier ein neues Bewusstsein, eine neue Mentalität zu schaffen? Sie sprachen vorhin von der Basis der Gläubigen.
Hengsbach: Ich bin schon der Meinung, dass in allen Institutionen, Gewerkschaften, Parteien auch Kräfte sind, die gleichsam die Bestätigung dessen, was ist, nicht mehr akzeptieren. Natürlich könnte man erwarten, dass zivilgesellschaftliche Gruppierungen sich melden, Attac oder Greenpeace. Aber ich denke, auch in den traditionellen Einrichtungen sind diese Gruppen vorhanden. Beispielsweise, dass ja doch es so aussieht, als gäbe es eine Wiederbelebung der Tarifautonomie. Die Große Koalition bestätigt das auch. Also ich denke, in allen Gruppierungen gibt es Kräfte, die jenseits dessen, was gegenwärtig ist, sich zu Wort melden.
Beispielsweise Frau Schwesig. Frau Schwesig hat davon gesprochen, dass es noch andere Arbeiten gibt, die wesentlich sind für die Gesellschaft als nur die Erwerbsarbeit. Das heißt, wenn Menschen Eltern werden, also wenn sie Vater und Mutter werden, dann sollen sie die Chance haben, bei halbwegs gleichem Lohneinkommen auf einen Teil ihrer Vollerwerbstätigkeit zu verzichten und sich der Kinderbetreuung zu widmen. Diese Diskussion, dieser Einwurf von der Ministerin, ist natürlich in einem Tag platt geredet worden. Und da denke ich, es gibt diese Kräfte, die sich zu Wort melden und sagen, es muss etwas anderes kommen als die gegenwärtige von den Monopolen, Konzernen und Banken beherrschte beispielsweise Energiewende oder Bankenrettung oder der Versuch, die Finanzmärkte so zu regulieren, dass also nur ja nicht den Banken und den Versicherungskonzernen irgendwie ein Schaden zugefügt wird.
Scholl: Friedhelm Hengsbach, der katholische Sozialethiker, über den sozialen Abstieg. Im Rahmen unserer Reihe hier im Radiofeuilleton im Deutschlandradio Kultur über den sozialen Abstieg – in gut einer halben Stunde können Sie dazu wieder Brigitte Neumann hören mit ihren persönlichen Erfahrungen. Morgen ist auch die Meinung von Ihnen, unseren Hörern, wieder gefragt. Zwei Stunden können Sie dann anrufen, von Ihren Erfahrungen erzählen, mit unseren Gästen diskutieren, ab neun Uhr hier in unserem Programm. Herr Hengsbach, wir danken herzlich für Ihren Besuch und das Gespräch!
Hengsbach: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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