Der Publizist und Soziologe Andreas Kemper ist bekannt geworden durch seine Arbeiten zum Begriff des Klassismus und Publikationen zu antidemokratischen Tendenzen in der AfD. Gemeinsam mit Heike Weinbach publizierte er 2009 das Buch "Einführung in den Klassismus", der den Begriff im deutschsprachigen Raum etablierte, wo er bis dahin weitgehend unbekannt war. Kempers Eltern arbeiteten in der Textilindustrie. Er schloss seine Studien der Philosophie, Soziologie und Pädagogik an der Universität Münster und der FU Berlin 2005 mit einem Magister ab. Kemper gründete an der Uni Münster das bundesweit erste AStA-Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende, das sich mit der Selbstorganisation von Arbeiterkindern im Bildungsbereich beschäftigt.
Soziologe Andreas Kemper über Chancenungleichheit
Der Weg nach oben wird vielen Menschen in Deutschland durch große Chancenungleichheit erschwert, sagt der Soziologe Andreas Kemper. © imago / Ikon Images / Andrew Baker
Wie Milieus in Deutschland zementiert werden
29:14 Minuten
Gesellschaftliches Ansehen und beruflicher Erfolg hängen hierzulande stark von der sozialen Herkunft ab, sagt Andreas Kemper. Der Klassismus-Forscher sieht das deutsche Bildungssystem und Erbrecht als Hindernisse für Aufstiegschancen an.
Abwertung, Diskriminierung, Ausgrenzung, Ausbeutung - das sind Erfahrungen, die viele Menschen machen. Die Wahrscheinlichkeit, dem ausgesetzt zu sein, ist dann besonders groß, wenn sie nicht das Glück haben, in ein familiäres Umfeld geboren zu werden, dass sie mit den nötigen Ressourcen ausstattet, um in unserer Gesellschaft wertgeschätzt zu werden. Dabei gehe es zwar in erster Linie um ökonomische Ressourcen, aber entscheidend seien ebenso kulturelle und soziale, sagt der Soziologe Andreas Kemper im Rahmen unserer Denkfabrik "Von der Hand in den Mund".
Das Bild, das sich Menschen von anderen machen, und der Wert, den sie ihnen zuschreiben, ist entscheidend, "wirkungsmächtig" geprägt durch deren soziale Herkunft oder sozialen Status. Sprache, Mode- und Musikgeschmack, Umgangsformen, Benehmen werden dabei in der Regel gemessen an bürgerlichen Normen. Abweichungen werden als defizitär bewertet. Unter anderem mit diesen - zum Teil verinnerlichten - Vorurteilen und ihrer ausgrenzenden Wirkung befasst sich die Klassismus-Theorie.
Klassismus legitimiert die Klassengesellschaft
Aus soziologischer Sicht führten klassistische Strukturen und klassistisches Denken letztlich dazu, "dass die Klassengesellschaft aufrechterhalten wird, entsteht, legitimiert wird." Klassistische Gesellschaften diskriminierten all jene strukturell, werteten sie ab und beuteten sie aus, die Angehörige von in der gesellschaftlichen Hierarchie sozial unten stehenden Gruppen sind oder als solche wahrgenommen werden.
Allerdings erlebe nicht nur die besitzlose "Arbeiterklasse" im Marxschen Sinne Ausbeutung, Ausgrenzung und Abwertung. Menschen, denen ihre Arbeit aus den unterschiedlichsten Gründen nicht zum Leben reicht, die buchstäblich von der Hand in den Mund leben, erführen Ähnliches. Sie gehörten gewissermaßen zu einer "Armutsklasse". Die Wahrscheinlichkeit, in Armut zu rutschen, sei bei niedrigem sozialen Status und geringen ökonomischen Ressourcen deutlich höher. Eine unzureichende Bildung erhöhe das Armutsrisiko.
Das Bildungssystem ist festgefahren
Andreas Kemper kritisiert, dass die Milieus in Deutschland "sehr stark zementiert" seien. Das bedeute, "dass Menschen, die in eine bestimmte soziale Herkunft geboren wurden, meist in diesem Milieu bleiben." Schuld daran seien unter anderem ein Bildungssystem und ein Erbrecht, die Chancenungleichheit zur Folge hätten. Während etwa einige Menschen Millionen erbten, kämen andere zeitlebens kaum über die Runden.
Geld ließe sich umsetzen in "kulturelles Kapital", denn Geld erleichtere auch den Zugang zu guter Bildung. Gute Bildung wiederum erleichtere den Zugang zu gut bezahlten Jobs erheblich. Das Bildungssystem sei einerseits durch bürgerliche Normen geprägt und durch die frühe Auflösung des gemeinsamen Unterrichts aller Kinder. Seit den Bilungsreformen der 70er-Jahre seien die Entwicklungen im Bildungssystem "festgefahren". Arbeiterkinder könnten zwar theoretisch studieren, "es ist ja nicht verboten." Aber die Wahrscheinlichkeit, ein Studium erfolgreich abzuschließen, sei bei Akademiker-Kindern ungleich höher - unabhängig von den schulischen Leistungen.
Kritik am Klassismus ist klassistisch
Klassismus sei keineswegs Klassenkampf light, der den Blick auf die Überwindung der Verhältnisse verstelle. "Ich empfinde diese Macht der Definition von Klassismus schon als klassistisch", kommentiert Kemper die entsprechende Kritik. Es gehe keineswegs nur um Respekt für Ärmere und für Menschen mit niedrigem sozialen Status, sondern darum die Verhältnisse zu verändern. "Wir haben immer auch von Ausbeutung gesprochen, von Machtverhältnissen, von Gewaltverhältnissen", betont der Sozialwissenschaftler.
Der Klassismus-Ansatz sei gezielt als "Parallelstruktur" zu Sexismus und Rassismus entstanden. "Anerkennung" und Akzeptanz von Andersartigkeit sei wichtig, aber nicht ausreichend. Es käme ja auch keiner auf die Idee zu sagen: "Mit Rassismus ist nur gemeint, dass man nett zu Menschen mit einer anderen Hautfarbe sein soll." Mit dem Klassismusbegriff denke man über den Klassenkampf-Ansatz und Lohnkämpfe hinaus. Die spielten zwar weiterhin eine Rolle. Gleichzeitig rückten Alltags- oder Bildungsfragen stärker in den Fokus. Es sei wichtig, auch die Diskriminierung von Arbeitslosen und Obdachlosen zu betrachten, "die bislang gar nicht oder zu wenig im Blickfeld waren."
(AnRi)
(AnRi)
Es handelt sich um eine Wiederholung vom 8. Januar 2022.